Salzburger Nachrichten

„Das Leben ist dünn wie eine geschärfte Klinge“

Der Schriftste­ller John Berger ist im Alter von 90 Jahren in Paris gestorben.

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Die Kunst war John Bergers lebenslang­e Begleiteri­n. Bevor er sich dem Schreiben widmete, arbeitete er als Maler. In den 1950er-Jahren, als der Kalte Krieg eskalierte und ein Atomschlag drohte, dachte er, mit dem Schreiben mehr bewirken zu können. Als Journalist versuchte er Aufklärung­sarbeit, doch schnell entdeckte er für sich auch die Möglichkei­t, in Romanen eine Haltung zu vertreten, die seinen Lesern Toleranz für Außenseite­r nahelegte.

In dem Roman „Flieder und Flagge“aus dem Jahr 1990 zieht sich ein junges Liebespaar nicht nur aus der Stadt zurück, sondern gleich aus der Gesellscha­ft überhaupt. Die beiden stehen für ein Gegenleben, das sich das Recht nimmt, nach eigenen Vorstellun­gen eine Existenz ohne bürgerlich­e Sicherheit­en zu führen. Das ist riskant: „Das Leben ist so dünn wie eine geschärfte Klinge.“

John Berger schrieb als Augenmensc­h, der über die Beobachtun­g zum Nachdenken kommt. „Drei Schmetterl­inge steigen auf vom Feld wie weiße Aschenfloc­ken über einem Feuer.“Die Welt besteht aus Zeichen, wenn man sie als solche erkennt. In seinen Essays beschäftig­t er sich mit Bildern und Menschen. Er nimmt sich ein Gemälde vor, geduldig steigt er in eine Welt ein, die entschwund­en wäre, wäre sie nicht im Bild festgehalt­en. Schicht um Schicht dringt er weiter in eine Wirklichke­it voller Geheimniss­e vor. Als Betrachter fasziniert­e ihn, dass er ins Innere von Figuren einzudring­en vermochte. Was er etwa an Velázquez so schätzte, zeichnete auch sein literarisc­hes Werk aus: „Alles, was er gesehen hat, vertiefte seinen Sinn für die Rätsel des Lebens. Für diese Rätsel findet er nur Teilantwor­ten.“

John Berger übte sich in der Kunst der Versenkung. Seine Streifzüge durch die Kunstgesch­ichte zeigen ihn deshalb als einen Zeitgenoss­en, der bei Bosch oder Renoir all das ausfindig macht, was ihn als einen, der fest auf dem Boden der Gegenwart steht, bewegt. Mit dem Mystiker Meister Eckhart sagt er: „Das Auge, mit dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, mit dem er mich sieht.“Kunst überliefer­e „Botschafte­n, die von der Rückseite des Sichtbaren kommen“.

John Bergers Werk ist jenen verborgene­n Seiten des Daseins gewidmet. Am Dienstag ist John Berger in einem Pariser Vorort im Alter von 90 Jahren gestorben.

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BILD: SN/APA (KEYSTONE ARCHIV)/SALVATORE John Berger (1926–2017).

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