Bediene dich selbst und spare mir Geld
Wie der vor 100 Jahren gegründete Piggly Wiggly Store dafür sorgte, dass Unternehmen heute zunehmend Arbeit an Kunden auslagern.
WIEN. Selbermachen hat nicht immer mit Schaffensdrang, Selbstverwirklichung und dem Ausleben sprudelnder Kreativität zu tun. Aus Sicht eines Unternehmens ist es eine interessante Strategie, Arbeiten, die früher Mitarbeiter erledigten, an die Kunden auszulagern und somit Personalkosten einzusparen.
Mitunter freilich geht die Auslagerung von Arbeit über kleine Kostenvorteile hinaus. Die Erfindung der Selbstbedienung (SB) hat ganze Branchen auf den Kopf gestellt.
Beispiel Einzelhandel: Vor gut 100 Jahren eröffneten die ersten Selbstbedienungsläden im Lebensmittelhandel. Zunächst waren Kunden und Händler skeptisch, als am 6. September 1916 der Kaufmann Clarence Sanders in Memphis im US-Bundesstaat Tennessee den ersten seiner Piggly Wiggly Stores eröffnete, wo frei in Regalen ausgelegte Waren die gewohnte Verkaufstheke samt Verkäufern ersetzte. Der Erfolg war bestechend, das Beispiel machte Schule. 1938 eröffnete der deutsche Kaufmann Herbert Eklöh in Osnabrück den ersten SB-Laden außerhalb der USA.
Bereits die ersten SB-Geschäfte hatten die wesentlichen Merkmale heutiger Supermärkte integriert, wie abgetrennte Ein- und Ausgänge und Wandregale auf beiden Seiten. Ein Handelsforscher beschrieb die Innovation in den 1950er-Jahren so: „Der Kunde passierte nach Betreten des Ladens ein Drehkreuz und war durch die Anordnung der Verkaufsmöbel gezwungen, an allen Warenauslagen entlangzugehen.“Aus der Selbstbedienungslogik ergaben sich Innovationen, die den Einzelhandel auf den Kopf stellten und die Branche bis heute prägen.
Denn war im Bedienungshandel noch der Wunsch des Kunden – also die Nachfrage – entscheidend, so trat mit der freien Auswahl das Angebot in den Vordergrund. Plötzlich wurden attraktive Verpackungen und der Preis ausschlaggebende Elemente für die Verkaufsentscheidung. Es war die Geburtsstunde für Marketing und Markenbildung.
In Ermangelung sonstiger Beratung übernehme im SB-Geschäft häufig der Preis diese Funktion, sagt der Berater Roman Kmenta. „Der Preis macht eine Aussage über die Qualität“, vor allem dann, wenn der Kunde wenig Ahnung vom Produkt habe. Das Kaufverhalten lässt sich auch beeinflussen durch „Ankerpreise“und die Positionierung von Artikeln. Kunden verglichen nämlich ständig Preise – auch unbewusst. Das könne man sich zunutze machen, indem man neben das bisher teuerste Produkt ein noch teureres stelle. „Damit relativiert sich der Preis und plötzlich wirkt das Hochpreisige gar nicht mehr so hochpreisig.“
Umsatzsteigerungen waren dafür verantwortlich, dass der Siegeszug des Selbstbedienungshandels schon bald nicht mehr aufzuhalten war. Eine deutsche Studie aus dem Jahr 1952 belegt eine Verdoppelung des Umsatzes der damals 79 SBGeschäfte gegenüber dem Bedienungsbetrieb. Die Personalleistung dieser Läden lag um 51 Prozent über jener vergleichbarer Bedienungsgeschäfte, der Umsatz je Quadratmeter erhöhte sich um 27 Prozent.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich ähnliche Modelle in vielen Branchen und Sparten ausgebreitet und ganze Berufsgruppen an den Rand des Aussterbens gebracht. Oder erinnern Sie sich, wann Sie zuletzt an einer Tankstelle bedient wurden? Heutige Kinder wissen oft nicht mehr, was ein Tankwart ist.
SB-Modelle haben auch in Restaurants Einzug gehalten. Beim Buchen und Einchecken von Flügen oder beim Parken haben längst Automaten angestelltes Personal abgelöst, ebenso beim Kauf von Zugtickets, Zeitungen oder Briefmarken.
Sinnvollerweise werden standardisierte und kaum beratungsintensive Prozesse ausgelagert. Dass das nicht immer zutrifft, zeigt sich an Fahrkartenautomaten im öffentlichen Verkehr. Ortsfremde Menschen können schon einmal überfordert sein, wenn sie in Sekunden die Tariflogik eines Verkehrsverbunds erfassen, verschiedene Fahrscheinarten vergleichen und die bestgeeignete auswählen sollen.
Probleme kann fehlende Beratung auch bei Banken auslösen. Nicht alle Kunden fühlen sich wohl, wenn sie Tätigkeiten wie Überweisungen selbst ausführen sollen und ihnen dafür mitunter noch steigende Gebühren verrechnet werden. Freilich stehen dem auch Vorteile wie die flexible Nutzung jenseits der Öffnungszeiten sowie weltweiter Zugriff über Internet gegenüber.
Kritik an solchen Auslagerungen erklärt Finanzexperte Stefan Pichler auch damit, dass österreichische Banken lange Zeit Dienstleistungen wie die Kontoführung gratis angeboten hätten. Das Geld hätten sie anderswo verdient, bei wie Sparbü- chern oder Bausparverträgen, „im Bündel hat der Kunde Geld gebracht“. Das funktioniert aber nicht mehr in Zeiten von Internet und „Unbundling“, der Entflechtung gemeinsam angebotener Dienste.
Internetbasierte Nichtbanken befeuern diese Entwicklung, indem sie sich die lukrativsten Services herauspicken und zu Kampfpreisen anbieten. Neben Kostenersparnis sieht Ökonom Martin Schreier ein weiteres Motiv für die SB-Welle darin, den Kunden in die Produktentwicklung einzubeziehen. „Wenn er dadurch einen höheren Nutzen und höheren Wert bekommt, ist er bereit, einen höheren Preis zu bezahlen oder mehr zu kaufen.“Beides steigere schließlich den Gewinn.
Beispiele sind individuell zusammengestellte Müslimischungen (muesli.de oder mymuesli.com) oder selbst designte Sportschuhe etwa von Nike. Diese Art des Selbermachens spielt bei Produkten eine Rolle, die viele Ausgestaltungsmöglichkeiten zulassen und wo es folglich schwer ist, einen Mittelwert zu treffen. Oder man produziert zig Variationen eines Artikels, siehe die bis zur Decke voll geräumten Müsliregale in Supermärkten.
Maßgeschneiderte Produkte setzen aber voraus, dass die Kosten für eine Einzelanfertigung jene einer Massenproduktion nicht übersteigen. Das geht etwa mit 3D-Druckern, „die schaffen eine Losgröße 1 zum Preis einer Massenfertigung“, sagt Schreier. Schließlich müssen Kunden wie Unternehmen bereit zur Kooperation sein, weil sie Vorteile darin sehen. Paradebeispiel ist Branchenpionier Ikea. Der bietet Kostenvorteile, wenn der Kunde selbst Hand anlegt. Jeder kann sich die Möbel auch liefern und zusammenbauen lassen und dafür zahlen wie bei jedem anderen Möbelhaus.