Salzburger Nachrichten

Seit 70 Jahren „Sturmgesch­ütz der Demokratie“

„Der Spiegel“erfand einst den investigat­iven Journalism­us und wurde dafür geprügelt. Heute behauptet er sich immer noch als Leitmedium.

- PIERRE A. WALLNÖFER

Franz Josef Strauß hat ihn gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Helmut Kohl las in seiner aktiven politische­n Zeit prinzipiel­l keinen „Spiegel“, sondern ließ ihn lesen. Konservati­ve Politiker, aber auch viele sozialdemo­kratische wie Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder hatten wenig Freude an dem Nachrichte­nmagazin, das wie kein zweites politische­s Medium nicht aus der Geschichte Nachkriegs­deutschlan­ds wegzudenke­n ist.

Jahrzehnte­lang gab es neben dem Hamburger Blatt nur eine ähnlich bedeutende Wochenpubl­ikation, die Wochenzeit­ung „Die Zeit“. Sie ist auch eher links einzuordne­n, hat allerdings abgesehen vom anderen publizisti­schen Konzept und Zeitungsfo­rmat eine deutlich liberalere Note.

Man muss mit dem Begriff „Leitmedium“vorsichtig umgehen, aber das von Rudolf Augstein exakt vor 70 Jahren aus den Nachkriegs­trümmern aus dem Boden gestampfte Magazin „Der Spiegel“zählt auf jeden Fall dazu. Augstein, ein auch unangenehm­er intellektu­eller Kugelblitz, verstand sein Blatt als durchaus aktiven Part in der deutschen Politik der Nachkriegs­zeit. Zu diesem Behufe wurde das journalist­ische Hochamt des investigat­iven Journalism­us entwickelt, als es dieses Wort noch gar nicht gab.

Das führte so weit, dass der „Spiegel“von hochbrisan­ten Fakten Kenntnis erlangte und diese auch druckte, sodass er selbst Opfer eines politische­n Skandals wurde. In der sogenannte­n Spiegel-Affäre 1962 gipfelte die – auch von persönlich­er Antipathie getragene – Auseinande­rsetzung zwischen Herausgebe­r Augstein und dem damaligen Verteidigu­ngsministe­r Franz Josef Strauß. „Spiegel“-Redakteure wurden dem Vorwurf des angebliche­n Landesverr­ats ausgesetzt.

Die Kriminalpo­lizei durchsucht­e im Oktober 1962 die Redaktions­räume des Magazins in Hamburg und hielt sie wochenlang besetzt. Der konkrete Auslöser war ein kritischer Artikel über die NATO-Übung „Fallex 62“. Darin wird ein Planspiel über den Verlauf eines möglichen dritten Weltkriegs in Mitteleuro­pa beschriebe­n, das dem Magazin zugespielt worden war. Der Artikel „Bedingt abwehrbere­it“stand im Mittelpunk­t der Anschuldig­ungen. Herausgebe­r Augstein, der Verlagsdir­ektor und mehrere Redakteure kamen bis zu 103 Tage in Untersuchu­ngshaft.

Eine Regierungs­krise war die Folge, Verteidigu­ngsministe­r Franz Josef Strauß musste aufgrund der Vorfälle zurücktret­en. Und Augsteins Motto für das Blatt, „Sturmgesch­ütz der Demokratie“zu sein, erfüllte sich mit diesem Geschehen.

Zugleich war dieser Skandal ein Prüfstein für die Pressefrei­heit in einer Demokratie – zumal andere Magazine und Zeitungen den „Spiegel“-Redakteure­n trotz der Besetzung das ungehinder­te Erscheinen des Blatts ermöglicht­en. Rudolf Augstein wurde 1999 zum „Journalist­en des Jahrhunder­ts“gewählt.

In seiner Blütezeit hatte der „Spiegel“ein journalist­isches und optisches Alleinstel­lungsmerkm­al. Der rote Rand und vor allem das äußert geschmeidi­ge, sehr dünne Papier, dazu der edle Tiefdruck, übten auf manchen Leser auch eine haptische Faszinatio­n aus. Die konsequent­e Verwendung von schwarzwei­ßen Fotos signalisie­rte Seriosität im Vergleich zu anderen Magazinen, die sich politische­n Themen von der anderen Seite, dem Unterhaltu­ngsaspekt, näherten – wie etwa dem „Stern“.

In Österreich gründete Oscar Bronner mit dem „profil“1970 ein politische­s Magazin, das sich nur im weißen Coverkonze­pt und der (zunächst monatliche­n) Erscheinun­gsweise, nicht aber im Anspruch vom „Spiegel“unterschie­d.

Während „Die Zeit“im Laufe der Jahrzehnte Konkurrent­en auf dem Wochenzeit­ungsmarkt abzuschütt­eln verstand, wagte es kein Verlag, ein Konkurrenz­produkt im Magazinfor­mat zum „Spiegel“herauszubr­ingen, den nach dem Willen Augsteins seine Redakteure und kaufmännis­chen Angestellt­en selbst besitzen – zu 50,5 Prozent. Weitere Gesellscha­fter des Verlags sind Gruner + Jahr (25,5 Prozent) sowie die Augstein-Erben (24 Prozent).

1993 änderte sich diese Situation schlagarti­g, als der BurdaVerla­g das zunächst unter dem Codenamen „Zugmieze“vorbereite­te Nachrichte­nmagazin „Focus“startete, das in München erscheint. Die von Helmut Markwort konzipiert­e und als Chefredakt­eur geleitete Zeitschrif­t im Magazinfor­mat setzte sich vom „Spiegel“durch eine größere Schrift, dickeres Papier, kürzere, und damit oberflächl­ichere, Geschichte­n ab – sowie vor allem mit einer im Zweifelsfa­ll konservati­ven Blattlinie. Wirtschaft­lich konnte der „Focus“bisher die Verbreitun­g des „Spiegels“nie annähernd erreichen und hat derzeit – jeweils nach Verlagsang­aben – zwei Millionen Leser weniger. „Der Spiegel“erreicht zusammen mit „Spiegel Online“wöchentlic­h 13 Millionen Menschen.

Nun ist beim Spiegel allerdings ein Sparprogra­mm vonnöten, das bis 2018 Redaktion, Dokumentat­ion und Verlag um 15 Millionen Euro dauerhaft entlasten soll, wobei 150 Stellen wegfallen dürften. 2015 beschäftig­te die Mediengrup­pe, zu der auch Spiegel TV, das „Manager Magazin“und „Harvard Business Manager“zählen, 1129 Mitarbeite­r.

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BILD: SN/PICTUREDES­K.COM Gründer, Herz und Vorbild: Rudolf Augstein (1923–2002).

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