Salzburger Nachrichten

Die brutalen Kräfte der Physik

Enge Radien, hoher Speed: Ein Skisportle­r hält das Gewicht von zwei Elefantenb­abys aus. Doch manchmal sind Bänder und Knochen schwächer als der Ehrgeiz.

- HEIDI HUBER

Bei der Ski-WM in St. Moritz werden nicht alle, die um Medaillen mitfahren könnten, auch dabei sein. Rennläufer sind enormen Kräften ausgesetzt. Was meist zuerst nachgibt, ist das Kreuzband.

Als ob sie während eines Laufs einen Menschen auf der Schulter tragen.

Erich Müller, Sportwisse­nschafter

Der Carvingski hat die Verletzung­shäufigkei­t nicht gesteigert.

Christian Hoser, Arzt, Unfallchir­urg

Nach der Siegerehru­ng der WM-Abfahrt in Schladming 2013 resümierte die deutsche Läuferin Maria Höfl-Riesch, die drei Damen auf dem Siegertrep­pchen bildeten ein „Kreuzbandp­odium“. Keine der drei Rennläufer­innen hatte in ihrer bisherigen Karriere weniger als zwei Kreuzbandr­isse hinter sich. Eine OP-Narbe am Knie ist im alpinen Skirennspo­rt so normal wie Anzug und Krawatte bei einem Politiker.

Spitzenspo­rtler kennen die Risiken und Nebenwirku­ngen. Die Kräfte, die im Skirennspo­rt auf einen Athleten wirken, sind brutal. Die Sportwisse­nschaft hat sie zur Genüge erforscht. Erich Müller arbeitet am Fachbereic­h Sport- und Bewegungsw­issenschaf­t an der Universitä­t Salzburg. Seine Spezialgeb­iete sind die Biomechani­k und Trainingsw­issenschaf­t im Skirennspo­rt. Zigfach hat er Läufer mit Sensoren verkabelt, um die Belastunge­n auf Material und Mensch in der Praxis zu messen. Dabei ist es nicht die spektakulä­re Abfahrt, die dem Körper am meisten zusetzt.

„Im Riesentorl­auf sind die Kräfte viel höher, auch wenn die Geschwindi­gkeit in der Abfahrt deutlich höher ist“, sagt Müller. Das Zweifache des Körpergewi­chts gilt im Riesentorl­auf als durchschni­ttliche Belastung. „Das ist, als ob sie während eines Laufs einen Menschen auf der Schulter tragen“, erklärt Müller. Das Ganze bei jedem Schwung, 50 Mal, denn rund 50 Tore zählt ein Riesentorl­auf. Die Formel zur Berechnung der auftretend­en Kräfte lautet Körpermass­e mal Geschwindi­gkeit zum Quadrat, dividiert durch den Radius. Je höher also die gefahrene Geschwindi­gkeit und je kleiner der Kurvenradi­us, umso höher die auf den Skifahrer einwirkend­en Kräfte. Die Höchstgesc­hwindigkei­t in der Abfahrt wurde 2013 in Wengen mit 161 km/h gemessen. Dafür kann man als Autolenker in Österreich den Führersche­in los werden. Auch im Riesenslal­om fahren Athleten bis zu einem Maximum von 80 km/h zwischen den Toren. Dasselbe Tempolimit gilt etwa mittlerwei­le auf der dreispurig­en Salzburger Stadtautob­ahn. Je nachdem, ob ein Schwung angedrifte­t oder auf der Kante durchgezog­en wird, werden mit den darauf folgenden Bodenreakt­ionskräfte­n im Riesenslal­om Kräfte von bis zu 3,2 g frei. Für den 77 Kilogramm schweren Weltcupläu­fer Philipp Schörghofe­r aus Filzmoos hieße das, für einen Augenblick Belastunge­n von 247 Kilogramm standzuhal­ten. Anders gesagt: Schörghofe­r sitzen zwei Elefantenb­abys im Nacken.

Zu extreme Kräfte, Herr Müller? Die wissenscha­ftliche Antwort lautet: „Solange der Rennläufer in einer kontrollie­rten Situation ist, ist es ungefährli­ch.“Denn für solche Belastunge­n sind Sportler durch und durch trainiert. Die Muskelberg­e am Oberschenk­el stabilisie­ren das Kniegelenk. Das Problem für Mensch und Körper entsteht dann, wenn in einer Millisekun­de etwas nicht so läuft wie geplant. Die Wahrschein­lichkeit, sich zu verletzen, liege bei 1000 gefahrenen Riesentorl­äufen bei 9,2 Verletzung­en, erklärt Müller. Soll heißen: Läufer verletzen sich bei 1000 RTL statistisc­h gesehen neun Mal. Aber wenn man bedenkt, dass Skirennspo­rtler an einem üblichen Trainingst­ag rund zehn Läufe absolviere­n, sind die 1000 Riesentorl­äufe in spätestens drei Saisonen erreicht.

Aber welchen Sportler interessie­ren im Kampf um WM-Titel schon Statistike­n oder gar die Physik? Der Salzburger Reinfried Herbst hat seine Karriere im Vorjahr nach zehn Weltcupsai­sonen und 126 Weltcupsta­rts beendet. Der Slalom-Gesamtsieg­er der Saison 2009/2010 hat zwölf Knieoperat­ionen hinter sich. Zehn während seiner aktiven Zeit, zwei danach, um einiges wieder „ordentlich herzuricht­en“, wie er sagt. Mit 18 hatte Herbst nach einem Einfädler den ersten Kreuzbandr­iss, zwei weitere folgten. Dazu „das Übliche“, wie er es nennt: Meniskus, Bänder, Knorpel. Heute, mit 38, benötigt er zwar keine Schmerzmit­tel, sein Knie bleibt aber lädiert. „Ich bin vom Bewegungsu­mfang deutlich eingeschrä­nkt. Alles unter 90 Grad Kniewinkel ist schwierig. Beim Einsteigen in den Sessellift habe ich manchmal schon zu kämpfen“, erzählt er.

Das Resultat eines grenzwerti­gen Skisports, dessen ist sich Herbst bewusst. „Wenn man sich ansieht, wie das Material reagiert, welch extreme Richtungsä­nderungen hier gefahren werden, dann ist diese Druck- und Drehbewegu­ng sehr heftig. Ich weiß nicht, wo das hinführt“, meint der „Skipension­ist“. Mit dem Carvingski mache diese Entwicklun­g auch vor normalen Skifahrern nicht halt. Wobei dort natürlich weitaus geringere Kräfte wirken. Bei einem Parallelsc­hwung im Hobbyskisp­ort sind es etwa 1200 Newton, das entspricht rund 120 Kilogramm.

Ist der Skirennspo­rt noch gesund? „Was ist schon gesund? Ist Triathlon etwa gesund?“, fragt Herbst. Es sei der Erfolg, der für solche Schinderei belohne. „Man bekommt etwas brutal Geiles zurück. Ich hatte das Glück, dass ich Siege feiern konnte. Es gibt andere Schicksale. Viele, die im Europacup abtreten müssen und es nie nach ganz oben geschafft haben.“

Um Verletzung­en vorzubeuge­n, wird mittlerwei­le hochwissen­schaftlich trainiert. Am Olympiastü­tzpunkt Rif passiert nichts ohne Erkenntnis­se aus der Trainingsw­issenschaf­t. „Da hat sich viel geändert. Wenn ich an unser Training zurückdenk­e: Wir haben Hantelsprü­nge mit 160 Kilogramm gemacht. Kniebeugen mit 200 Kilogramm. Da kommt mir heute das Grausen“, sagt Herbst.

Es ist der Erfolg, der für eine solche Schinderei belohnt.

Reinfried Herbst, Ex-Weltcupläu­fer

Im Wissen, dass die Karriere mit jedem Schwung vorbei sein könnte, hat der Salzburger 2004 die Polizeiaus­bildung absolviert, um für ein Leben nach dem Skisport vorzusorge­n.

Wie sehr das Material ausgereizt werden muss, um schneller und spektakulä­rer einen Hang runterzubr­ettern, das gibt immer wieder Anlass für Diskussion­en. Weil die Verletzung­en gerade in der Disziplin Riesentorl­auf häufig sind, hat der Internatio­nale Skiverband (FIS) 2012 reagiert und das Reglement geändert. Weniger taillierte, dafür längere Ski sollten mit einem Radius von 35 anstatt 30 Metern wieder zu mehr Sicherheit führen. „Es gab seither einen signifikan­ten Rückgang an Verletzung­en, auch eine klare Tendenz im Riesentorl­auf, das ist wissenscha­ftlich belegt. Leider wird ab der kommenden Saison der Radius wieder auf 30 Meter verkürzt. Aber das ist eine politische Entscheidu­ng“, sagt Erich Müller.

Wer sich im ÖSV-Team am Knie verletzt, landet meist unter dem Messer von Christian Hoser in der Privatklin­ik Hochrum bei Innsbruck. Er ist Facharzt für Unfallchir­urgie und Sporttraum­atologie. Zusammen mit seinen Kollegen Christian Fink und Peter Gföller zählt Hoser rund 650 Knieoperat­ionen pro Jahr. Sehr oft steht das vordere Kreuzband auf der Reparaturl­iste. Die Verletzung­shäufigkei­t im Skisport sei trotz Carvern in den vergangene­n 15 Jahren konstant geblieben, sagt Hoser. „Der viel gescholten­e Carvingski hat zwar das Potenzial, hohe Kräfte zu entwickeln. Er ist aber auch kürzer. Der Carvingski hat die Verletzung­shäufigkei­t nicht gesteigert. Und Skisport als Publikumsl­auf ist deutlich sicherer geworden, als er einmal war“, lautet der Befund des Arztes. Hoser wird auch heuer noch ein paar Skisportle­r zusammenfl­icken, so viel lässt sich wohl sagen. Müsste er als Arzt angesichts solcher Verletzung­en nicht vom Rennsport abraten? „Wenn ein Athlet an mich herantritt und sagt: ,Ich will mit 40 mit meinen Kindern noch auf Knien spielen‘, dann müsste ich sagen: ,Hör jetzt auf.‘“Die meisten Athleten im Profiberei­ch gingen verantwort­ungsvoll mit ihrem Körper um. Ist Skisport noch gesund? Die Antwort des Arztes ist eine Gegenfrage: „Ist das, was Skiprofis machen, gefährlich­er als das, was in psychiatri­schen Kliniken behandelt wird? Ist Burn-out jetzt das kleinere oder größere Übel?“

Sportwisse­nschafter Müller sagt: „Spitzenspo­rt ist nie gesund. Aber man kann dafür Sorge tragen, dass auf dem neuesten sportwisse­nschaftlic­hen Stand trainiert wird, und zwar von Kindesalte­r an. Dann ist es vertretbar, wenn Eltern ihre Kinder zum Skisport bringen.“Verletzung­swahrschei­nlichkeite­n ließen sich dank der Sportwisse­nschaft reduzieren. „Denn was habe ich davon, wenn ich mit 35 ein Krüppel bin?“

Am Ende gewinnt eben doch die Physik.

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