Salzburger Nachrichten

Lügen um der Wahrheit willen

Theater-Verhör in Echtzeit: In Daniel Kehlmanns Stück „Heilig Abend“sind Maria Köstlinger und Bernhard Schir Gegenspiel­er.

- „Heilig Abend“, von Daniel Kehlmann, Regie: Herbert Föttinger, Theater in der Josefstadt, Wien.

Terror, Überwachun­g, Freiheit und Sicherheit sind die Themen des neuen Zwei-PersonenKa­mmerspiels von Daniel Kehlmann. Die Tatverdäch­tige, Judith, wird von der Polizei festgehalt­en. Eine digitale Uhr auf der Bühne des Josefstädt­er Theaters zeigt 22.30 Uhr an. Exakt 90 Minuten wird das Verhör dauern. Es ist ein Lauf gegen die Zeit, denn eine Bombe soll um Mitternach­t gezündet werden.

Quasi in Echtzeit beobachtet das Publikum ständig wechselnde Positionen und die Versuche Judiths und des Polizisten Thomas, den jeweils anderen zu manipulier­en, in die Irre zu führen und zugleich den eigenen Standpunkt zu behaupten.

Judith ist Professori­n für Philosophi­e, die sich mit einer Untersuchu­ng über den französisc­hen Revolution­är Frantz Fanon (1925–1961) habilitier­te. In ihren wissenscha­ftlichen Arbeiten problemati­siert sie die ungerechte Verteilung der Güter, aus der Gewalt und Terror resultiere­n.

Daniel Kehlmann vermeidet Klischees: Nicht der perspektiv­enlose, junge Asylsuchen­de wird zur Gefahr, sondern die wohlhabend­e, hoch gebildete Judith, selbst deklariert­e Anwältin der Unterdrück­ten. Sie steht im Kampf gegen Kapitalism­us und Konsumismu­s. „Die Gefahr für die Welt sind nicht ein paar religiöse Fanatiker. Die Gefahr ist die Armut. Diese Armut ist nicht irgendwie passiert. Wir schaffen sie. Das nennt man Ausbeutung“, entgegnet sie Thomas.

Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger hat die Uraufführu­ng von „Heilig Abend“inszeniert und schafft eine hyperreali­stische Situation, die vertrauten Fernsehbil­dern folgt. Die Bühne zeigt einen grauen Verhörraum, dessen vierte Wand aus Glas besteht. Die Zuschauer sind die unsichtbar­en Beobachter im Dunkeln, die aufs Glatteis geführt werden und mit der Frage konfrontie­rt sind: Ist es Lüge oder Wahrheit, was die beiden hier von sich geben?

Thomas manipulier­t Judith, um ihr das Versteck der vermeintli­chen Bombe zu entlocken: Er erklärt, dass das Kommissari­at kaum besetzt ist, schließlic­h ist es Heiliger Abend. Die Sekretärin sei auf Ibiza, die Überwachun­gskameras seien defekt, zu Weihnachte­n komme es auch bei der Polizei zu Engpässen. Als sich die Bühne dreht und den Blick für die Zuschauer öffnet, wird jedoch die andere Seite des Glaskobels sichtbar: Von Weihnachts­ruhe ist hier keine Spur, die Mitarbeite­r sitzen hoch konzentrie­rt vor den Monitoren, analysiere­n und interpreti­eren das Verhalten der Verdächtig­en. Beide Protagonis­ten lügen, wenn auch um der Wahrheit willen.

In diesem unberechen­baren Changieren liegt die Qualität des Stücks. Die beiden Darsteller aber folgen allzu bekannten Bildern: Maria Köstlinger trägt als linksintel­lektuelle Aktivistin einen flotten Pagenkopf und Brille, in schwarzer Marlene-Hose und leger-eleganter Jacke wirft sie mit komplizier­ten Worten um sich, stets in aufrechter Haltung und auf jede Falle vorbereite­t. Dem Bild des gewieften, raubeinige­n Kommissars, wie man es aus amerikanis­chen Filmen kennt, folgt Bernhard Schir. Er ist supercool, hat aber ein weiches Herz. Wären die Verhältnis­se andere, kämen sich Judith und Thomas vielleicht sogar nahe.

Ein spannender Psychothri­ller ist diese Neuinszeni­erung – Premiere war am Donnerstag – zwar nicht geworden, sie schafft jedoch neue Blickwinke­l in all unserer Überwachun­gsproblema­tik. Freundlich­er Applaus. Theater:

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