Auf den Spuren des Minotaurus
Kykladen. In der Antike galt die Inselgruppe als Spielplatz der Götter. Das Zentrum bildete das Eiland Delos, das dem Gott Apollon geweiht war.
Etwas mehr als 200 Inseln bilden einen Ring zwischen Kreta und dem Peloponnes. Diese Form prägte auch den Namen – kyklos heißt Ring, Kreis oder auch Rad. Wo sich früher die Götter tummelten, wimmelt es heute von sonnenhungrigen Touristen. Nicht umsonst wurde auf den Kykladen das Inselhüpfen erfunden. Wem dafür kein Flugzeug zur Verfügung steht, der ist mit Fährverbindungen bestens versorgt. Die unzähligen Strecken ergeben auf dem Plan ein buntes Fadengewirr. Ob darin auch Theseus den Überblick behalten hätte, ist fraglich. Ihm hatte die kretische Königstochter Ariadne den Weg aus dem Labyrinth des Minotaurus mit einem roten Faden gezeigt, aber das war immerhin nur einer.
Das Tuten des Schiffshorns ist noch nicht verklungen, als sich Unruhe unter den Passagieren breitmacht. Majestätisch läuft die Fähre aus Mykonos in den Hafen von Naxos ein. Ein steinernes Rechteck ragt wie ein gigantisches Nadelöhr in den Himmel. Was aussieht wie ein moderner Bau aus Stahlbeton, ist in Wahrheit der Rest des antiken Tempels zu Ehren des Gottes Apollon aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, die vier mal sechs Meter große Portara.
Dem hier noch immer waltenden Einfluss der hellenischen Götter ist es wohl zu verdanken, dass sich kein Sterblicher dem Drang widersetzen kann, dieses Gebilde zu fotografieren. Eine Sisyphos-Aufgabe, denn das imposante Tor ist letztlich nur ein gigantischer Bilderrahmen, der einen wolkenlos blauen Himmel oder ein ebenso blaues Meer zeigt. Wem das zu wenig ist, der lässt seine Reisebegleiter im Rahmen posieren. Das ergibt dann einen ordentlichen Stau, in dem sich Fotografen und Fotografierte laufend auf die Zehen steigen.
An dieser Stelle könnte Ariadne, die Enkelin des Sonnengottes Helios, um ihren untreuen Liebhaber Theseus getrauert haben. Nach der gemeinsamen Flucht aus Kreta ließ Theseus sie sitzen. So groß war der Liebeskummer, dass sich Ariadne ins Meer stürzen wollte – da griff Dionysos ein. Der Gott des Weins und der Sinnlichkeit war auf Naxos zu Hause, seine etwas ausschweifenden Partys waren berüchtigt. Er rettete Ariadne und verliebte sich prompt in sie, in dieser oder umgekehrter Reihenfolge. Aus dem Mund der Reiseleiterin klingen die griechischen Göttergeschichten wie antike Seifenopern.
Im Hauptort Chora sitzen von Wetter und Alter gegerbte Griechen. An der Strandpromenade spannen Kellner Tischtücher im traditionellen Karomuster auf – je nach Restaurant rot, blau oder grün. Zwischen den Tischbeinen stolzieren Katzen auf und ab wie aufgeputzte Inselschönheiten. Durch schmale Gässchen führt der Weg auf die Burg Kastro, vorbei an schicken Restaurants und Galerien. Ein junger Mann schleppt eine Kiste Bier auf der Schulter, der Name: Mythos. Das gehört zwar zum dänischen Carlsberg-Konzern, erfreut sich aber als lokale Marke einer gewissen Beliebtheit bei Touristen, so wie Alpha und Fix. Letzteres ist die griechische Version des Gerstensafts des bayerischen Bierbrauers Johann Karl Fuchs, der im Gefolge um König Otto I. nach Griechenland gekommen war. Ein bemerkenswertes Kleinod findet sich im Bergdorf Chalkio. In einem unscheinbaren Gebäude residiert die Destillerie Vallindras, die sich weltexklusiv mit den Blättern der Kitros-Frucht beschäftigt. Diese Verwandte der Zitrone gedeiht nur auf Naxos. Aus ihren Blättern mixte hier vor 120 Jahren Marc G. Vallindras erstmals einen einzigartigen Likör. Das Rezept halten seine Nachfahren bis heute streng geheim. Aufmachung der Flaschen und Plakate im Stil des 19. Jahrhunderts verraten die glorreiche Vergangenheit des Getränks, das in den besten Zeiten bis nach New York geliefert wurde. Gleich daneben liegt die byzantinische Kirche Panagia Protothronos aus der Zeit um die erste Jahrtausendwende, als die griechische Götterschar auf einen Protagonisten zusammengeschrumpft war. Der Name „erster Bischofssitz“verweist auf die führende Stellung der Kirche. Diesen Anspruch erhebt der Pope auch heute noch, wenn er mit strengem Stirnrunzeln die – für deutlich zu kurz befundenen – Kleider der Besucherinnen kommentiert. Er selbst trägt ein knöchellanges Priestergewand, das nur Kopf und Sandalen frei lässt.
Ein weiterer Faden auf der Fährenkarte führt auf die benachbarte Insel Paros, wo lange weiße Sandstrände die Besucher erwarten. Die entspannte Insel hat ihre mondänen Seiten, dazu gehört Naoussa nahe dem Hauptort Parikia. Boutiquen internationaler Modeketten sind hier ebenso zu finden wie Läden mit Kunsthandwerk. Man verirrt sich leicht in den Gassen. Aber immer wieder landet man am Becken des Hafens, einem der größten der Kykladen. Und abends schwebt der Duft gegrillter Fische und Meeresfrüchte über den unzähligen Restaurants.
Antiparos ist nicht etwa das Gegenteil von Paros, die Vorsilbe hat hier die Bedeutung „gegenüber“. Auf dieser Nachbarinsel ist alles noch kleiner, beschaulicher, versteckter als auf Paros. Hier machen mit Vorliebe jene Urlaub, die sonst ohnehin genug Publicity haben: Tom Hanks hat hier ein Haus und wohl auch Madonna, die allerdings noch nie jemand gesehen hat. Ein regelmäßiger Gast ist auch der Prinz von Monaco, der hier auch seine Flitterwochen verbrachte.
Das beste Versteck der Kykladen liegt im Süden der Insel: die Tropfsteinhöhle Spilion Agiou Ioánnou. Der einäugige Riese Polyphem, den Odysseus überlistete und blendete, soll hier gelebt haben. Nach einer Legende suchten hier auch die Verschwörer gegen Alexander den Großen Zuflucht. Außer Zweifel steht, dass es die Höhle schon sehr lange gibt. Anhand der mächtigen Stalaktiten, die hier zu bewundern sind, schätzen Geologen ihre Entstehung in das Zeitalter der Dinosaurier zurück. Also vermutlich noch etwas früher, als die griechischen Götter sich dieses wunderschöne Stückchen Erde als Spielwiese auserkoren haben.