Purgertorium. Beinharte Bretter und ein unter dem Doppelnelson stöhnender Kanzler.
Was ist Politik? Die klassische Antwort stammt von dem deutschen Soziologen Max Weber: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“Im allgemeinen Sprachgebrauch ist davon die knappe Formel „Politik ist das Bohren harter Bretter“geblieben. Und nicht wenige hegen die Vermutung, dass zumeist die Bretter vor dem eigenen Kopf gemeint sind.
Eine andere Definition von Politik kam diese Woche von Kanzler Christian Kern. Angesprochen auf die von ihm inszenierte Regierungskrise sagte er in einem Interview, er habe das tun müssen, um die Dinge in Bewegung zu bringen. Denn – und jetzt kommt’s – „95 Prozent der Politik, die geboten wird, bestehen aus Inszenierung“. Eine bemerkenswerte Aussage, die kaum von der Hand zu weisen ist. Denn die Worte regieren und Regisseur, also Inszenierer, entsprießen demselben Wortstamm.
Wie übrigens auch Regiment und Direktor. Wenn man also feststellt, dass ein Direktor, ein Regisseur oder ein Regierungschef ein strenges Regiment führt, ist damit eigentlich nichts gesagt. Auch dass – siehe Salzburg – ein Festspieldirektor selbst Regie führt, ist so gesehen keine Überraschung, sondern eine semantische Notwendigkeit.
Bleibt nur die Frage, was eigentlich die restlichen fünf Prozent sind, aus denen die mit 95 Volumsprozent Inszenierung angereicherte Politik besteht. Wissen? Talent? Genie? Wahnsinn? Oder einfach Ellenbogen?
Politiker, die durch Tausende Stunden in Parteigremien gestählt sind, würden wie aus der Pistole geschossen antworten: Sitzfleisch. Für diese These spricht auch die Dauer der Regierungsverhandlungen in dieser Woche, die an die 100 Stunden betragen haben soll. Zum Vergleich: Das sind 66,67 Fußballspiele oder 20 Wagner-Opern hintereinander. Da schadet die erwähnte fleischliche Ausstattung sicher nicht.
Andere Politiker würden die fünfprozentige Beimischung zur Inszenierung wohl eher weiter oben suchen: beim Mundwerk. Auch diese These hat etwas für sich. Denn irgendwie muss ein Politiker ja nach außen tragen, was in seinem Inneren vorgeht. Pantomime und Mimik haben sich da nicht wirklich bewährt, was man an Thomas Klestils Mienenspiel angesichts der Wenderegierung im Jahr 2000 gesehen hat. Er konnte noch so sauer dreinschauen, angeloben musste er sie doch.
Das deckt sich übrigens mit den Erfahrungen des Menschen von Kindesbeinen an. Ist ein Säugling mit etwas unzufrieden und schaut deswegen grämlich drein, erreicht er höchstens, dass Tante Frieda ausruft: „Ganz der Papa!“Beginnt er hingegen zu schreien, bekommt er sofort, was er will.
Ganz ähnlich funktioniert die Politik, weshalb dort wenig mienengespielt und mehr mundgewerkt wird. Ob das ein Vorteil ist, sei dahingestellt. Denn man stelle sich vor, die jüngste Regierungskrise wäre nicht verbal, sondern rein pantomimisch abgehandelt worden: ein Knäuel ineinander verkeilter, miteinander ringender Leiber. Da stößt eine Faust hervor, dort blitzt eine blutige Nase auf, und in der Mitte setzt Reinhold Lopatka dem Herrn Bundeskanzler den doppelten Nelson an. Aber alles in vollkommener Stille. Herrlich.
Doch so funktioniert Politik nicht. Dort wird verbal gerungen. Also wäre die Antwort: Politik ist 95 Prozent Inszenierung plus fünf Prozent Mundwerk. Aber ist Reden nicht ein Teil der Inszenierung? Und das Anberaumen endloser Nachtsitzungen ebenso?
Womit wir wieder am Anfang der Überlegungen stehen. Was sind die fünf Prozent, die Kern gemeint hat? Da die Politikverdrossenheit ohnehin schon so groß ist, sagen wir optimistisch: Politik ist 95 Prozent Inszenierung und fünf Prozent Bohren harter Bretter.