Ein System schafft sich ab
Warum sich Parteien der Mitte permanent selbst beschädigen. Und warum Strache und Le Pen dürfen, was andere nicht dürfen.
Wie sich ein politisches System selbst demontiert, kann man derzeit in Frankreich in Echtzeit bewundern. Der Präsidentschaftskandidat der Linken ist so schwach, dass er nicht einmal bei den Sozialisten auf Zustimmung stößt. Der Kandidat der Konservativen ist so korrupt, dass sich seine Sympathisanten mit Grauen abwenden. Daher, „surprise, surprise“, wie Alexander Van der Bellen sagen würde: Die Kandidatin der äußersten Rechten, Marine Le Pen, von der es vor Kurzem noch geheißen hatte, sie könne niemals französische Staatspräsidentin werden, liegt in manchen Umfragen bereits auf Platz eins.
Klingt irgendwie logisch. Wenn die gemäßigten Parteien und Kandidaten sich und einander beschädigen, profitiert der politische Rand. Das ist in Österreich nicht anders.
Aber war da nicht noch etwas? Richtig! Auch Marine Le Pen hat, wie der konservative Kandidat François Fillon, eine Korruptionsaffäre am Hals. Anders als Fillon, der, wie es scheint, seine gesamte Familie mit gut dotierten Scheinanstellungen auf Kosten der Steuerzahler versorgte, hat Le Pen mutmaßlich mit 300.000 Euro des EU-Parlaments einen Parteimitarbeiter bezahlt. Das ist unstatthaft, weshalb das EU-Parlament diese Summe zurückhaben will. Interessanterweise scheint die Angelegenheit der Kandidatin der äußersten
Was immer die FPÖ anstellt: Es schadet ihr nicht
Rechten, im Gegensatz zu Fillon, keineswegs zu schaden. Nicht einmal dann, wenn ihre Sicherheitsleute nachfragende Journalisten aus dem Saal prügeln.
Und auch das ist in Österreich nicht anders. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das sich quer durch die Weltpolitik zieht: Politikern, die das herkömmliche politische System bekämpfen, wird es von den Wählern nachgesehen, wenn sie diesem System auf der Nase herumtanzen, ja sogar, wenn sie dieses System nach Strich und Faden ausnützen. Weite Teile der einschlägigen Protestwählerschaft erwarten sogar ein solches Verhalten. Hauptsache, es schadet dem verhassten System.
Von systemtreuen Politikern der politischen Mitte hingegen erwarten ihre Anhänger absolut systemkonformes Verhalten. Was einer Frau Le Pen recht ist, ist einem Herrn Fillon noch lange nicht billig.
Und noch einen Vorteil haben Politiker, die „das System“bekämpfen: Sie können sich im Bedarfsfall als verfolgte Unschuld inszenieren. Sie können jede kritische Medienberichterstattung, jede staatsanwaltschaftliche Ermittlung gegen ihr fragwürdiges Treiben als politische Kampagne des bösen Systems diskreditieren. Politiker, die selbst Teil des Systems sind, können das nicht. Einen Bürgermeister Heinz Schaden trifft eine Anklage der Justiz daher weit schmerzhafter als einen blau-orangen Bundesrat namens Gerhard Dörfler, der einst als Haiders Handlanger in allen Lebenslagen Kärntner Landeshauptmann war.
Von dieser Diskrepanz in der öffentlichen Wahrnehmung profitiert in erheblichem Ausmaß, es wurde bereits angedeutet, die FPÖ. Da mögen im Wochenrhythmus blaue Lokalpolitiker wegen hetzerischen Postings zurücktreten – der FPÖ schadet’s nicht. Da mag die blau, später orange dominierte Kärntner Landesregierung mit ihrem Hypo-Dilettantismus etliche Milliarden versenkt haben – der FPÖ schadet’s nicht. Da mögen Haiders Erben halbdutzendweise wegen Korruptionsverdachts vor dem Richter stehen – der FPÖ schadet’s nicht. Da mag sich die blaue Parteiführung mit Reisen nach Moskau und Washington international lächerlich machen – der FPÖ schadet’s nicht. Würden hingegen SPÖ oder ÖVP, Grüne oder Neos derlei auf ihr politisches Schuldkonto laden, wäre die Empörung groß und die Umfragewerte wären desaströs.
Diese Diskrepanz in der öffentlichen Wahrnehmung betrifft auch die private Lebensführung. Einem Jörg Haider applaudierten seine Sympathisanten, wenn er seinen Wohlstand zur Schau stellte, im Bärental den Gutsherrn spielte oder mit dem Porsche vorfuhr. Ein Alfred Gusenbauer hingegen geriet schon ins Wanken, als er sich lediglich von der AUA in die Business-Class upgraden ließ.
In den USA reift das beschriebene Phänomen soeben zur globalen Gefahr. Donald Trump hat in seiner kurzen Laufbahn als USPräsident bereits mehr Anlässe für ein Amtsenthebungsverfahren geboten als jeder seiner Vorgänger in einem langen politischen Leben. Doch US-Öffentlichkeit und Kongress, die einst noch die läppischste Verfehlung eines Bill Clinton gnadenlos ans Licht zerrten, zucken bloß mit den Achseln. Ein politisches System schafft sich ab.