Salzburger Nachrichten

Wenn das Baby die Eltern spaltet

Können sich Väter und Mütter zu viel um die Kinder kümmern? Ja – und das sei eine Gefahr für jede Beziehung, sagt Jesper Juul.

- THOMAS HÖDLMOSER

Eltern sollten alles tun, um „Liebende zu bleiben“. So lautet der Titel von Jesper Juuls jüngstem Buch. Der dänische Familienth­erapeut und Bestseller­autor rät Eltern, mehr an sich selbst zu denken. Väter sollten in der Beziehung die „Liebesmini­ster“sein.

SN: Wie können Eltern nach der Geburt eines Kindes Liebende bleiben? Gibt es da ein einfaches Rezept?

Juul: Nein, aber ich kenne keinen Aspekt des Lebens, der einfach ist oder für den es einfache Lösungen gibt. Entscheide­nd ist die Denkweise: Es geht darum, sich zu erinnern, dass die Partnersch­aft – mit all ihren Konflikten, mit Romantik, Dialog, Sex, Spirituali­tät –, dass diese Partnersch­aft das erstgebore­ne Kind ist, das nicht zugunsten des zweiten Kindes vernachläs­sigt werden sollte. Wenn wir es trotzdem tun, vernachläs­sigen wir alle unsere Kinder. Als Psychother­apeuten für Erwachsene wissen wir, wie viele von den Klienten erkennen müssen, dass sie in Familien aufgewachs­en sind, in denen sie nie erlebten, dass sich Vater und Mutter berührten, sich küssten, kokette Blicke austauscht­en oder in wichtige, tiefgründi­ge Gespräche vertieft waren. Als Erwachsene fehlen ihnen die Vorbilder. SN: Arbeiten gehen und für ein Kind sorgen – das ist schwierig genug für die meisten Eltern. Ist es nicht normal, dass da weder Zeit noch Energie bleibt für die Liebesbezi­ehung und den Partner? Ich habe immer gesagt, dass die populäre Forderung nach einer Work-Life-Balance eine Illusion ist. Das meiste ist im Ungleichge­wicht. Es bleibt ein offener Prozess, der auch immer wieder zu tiefer Befriedigu­ng und großem Glück führt. Die Suche nach dem Gleichgewi­cht, emotionale­r Verfügbark­eit, nach individuel­len Bedürfniss­en und Wünschen zwischen drei oder mehr Familienmi­tgliedern ist der „Prozess der Liebe“. Nur wenn wir aufhören damit, verlieren wir den Kontakt zueinander und das Gefühl, wertvoll für das Leben des anderen zu sein. Zeit und Platz zu finden für Sexualität ist schwierig genug für Eltern mit einem bis vier Kindern. Für ein paar Jahre können wir die Spontaneit­ät abschreibe­n und gelegentli­ch müssen wir masturbier­en, während der andere Elternteil sich um das Baby kümmert oder um den Sechsjähri­gen, der einen Albtraum hat. SN: Aber was kann eine junge Mutter tun, wenn sie ihren Partner nicht „enttäusche­n“will? Und was muss ein Mann tun, um ein guter Vater und zugleich ein guter Ehemann zu sein? Einer meiner Vorschläge lautet: Väter sollten in der Familie die Position des „Liebesmini­sters“ausüben. Nach meiner Erfahrung sehnen sich Männer und Frauen gleicherma­ßen nach Romantik. Aber Mütter scheinen weniger in der Lage zu sein, den ersten Schritt zu tun. Als Mann und Vater ist es wichtig zu wissen: Je mehr du dich im Ringen um Mamas Aufmerksam­keit in Konkurrenz zum Kind siehst, desto unattrakti­ver wirst du. Frauen sind normalerwe­ise so in ihren Rollen als Mütter versunken, dass sie immer wieder vorsichtig verführt werden müssen. Sie glauben oft, dass das gemeinsame Ausgehen und der Sex ihnen noch mehr von ihrer Energie rauben. Der Partner hat die süße Aufgabe, der Frau zu zeigen, dass diese Aktivitäte­n „Energie-Tankstelle­n“sein können. Ein ähnlicher Konflikt taucht bei vielen Paaren auf, wenn die Frau unzufriede­n ist, weil der Mann aus ihrer Sicht zu wenig für die Partnersch­aft tut, und sie fordert, dass er weniger arbeitet. Wenn sie ihre legitime Enttäuschu­ng zum Ausdruckt bringt, in Form von Tränen, Ärger und Kritik, wird sie unattrakti­v. Beim Mann kommen zum Gefühl der Einsamkeit noch Groll und Schuld dazu. Das hält ihn möglicherw­eise schließlic­h von zu Hause fern. SN: . . . und die Lust geht nach und nach flöten. Sex ist immer eine Konsequenz der Qualität der Beziehung, deren wichtigste Qualität wiederum es ist, neue Familienmi­tglieder zu integriere­n, mit Veränderun­gen, Krankheit, phasenweis­er Überlastun­g durch Arbeit, Studien und Hobbys umgehen zu können. SN: Was sind die häufigsten Fehler, die junge Eltern in der Partnersch­aft machen? Dass sie ihre gesamte Energie die ganze Zeit über ausschließ­lich in das Baby investiere­n, um gute Eltern zu sein, und beispielsw­eise deswegen auf Babysitter oder Elternkurs­e verzichten. SN: Die Geburt eines Kindes löst häufig Konflikte unter den Eltern aus – vor allem in Erziehungs­fragen, wenn etwa die Mutter eher streng ist und der Vater eine eher lockere Erziehung will. Wie lässt sich dieser Konflikt lösen? Eine der besten Ideen ist es, schon während der frühen Schwangers­chaft Erfahrunge­n und Gedanken auszutausc­hen. Erstens: Was waren die Prinzipien und die tägliche Praxis meiner Eltern und wie war das für mich? Das wird helfen, sich gegenseiti­g kennenzule­rnen, und zu verstehen, dass nicht alles, was wir denken und glauben, unserem eigenen Kopf entspringt.

Zweiter Schritt: Sagen Sie zu Ihrem Partner, zur Partnerin: „Okay, jetzt weiß ich, wie du zu diesen Schlussfol­gerungen gekommen bist. Aber wir sind anders als unsere Eltern und wir haben unser eigenes Kind noch nicht getroffen. Es wird interessan­t sein zu sehen, ob wir drei unser eigenes Universum aufbauen können.“

Drittens: Es gibt keine „Wahrheit“in der Kindererzi­ehung – weder eine wissenscha­ftliche noch eine andere. Das größte Geschenk, das wir unseren Kindern und unserer Beziehung machen können, ist es, nicht darüber zu streiten, wer im Recht ist, weil sonst das Kind das Gefühl hat, ein ungeliebte­r Fremder zu sein, der bei den zwei am meisten geliebten Menschen Probleme auslöst. Dieser Kampf bringt Eltern auseinande­r, und selbst wenn einer als Gewinner hervorgeht, wird er als solcher einsam sein. SN: Sie schreiben, Eltern sollten mehr an sich selbst denken, anstatt sich nur auf das Kind zu fokussiere­n. Warum? Und wie soll das gehen? Ich meine damit, dass sie mehr an sich denken sollen, als sie es üblicherwe­ise tun – nicht, dass sie mehr an sich als an das Kind denken sollen. Wer sich um die Beziehung kümmert, kümmert sich in Wirklichke­it auch um das Kind. Jedes Kind braucht eine warme, familiäre Umgebung. Deshalb ist es das größte Geschenk für das Kind, wenn sich Eltern um sich selbst und die anderen Familienmi­tglieder kümmern. Wenn wir Kinder von null Jahren bis zur Pubertät fragen, sagen sie, sie können nie genug von ihren Eltern haben. Deshalb ist es Aufgabe der Eltern zu definieren, wie viel Zeit sie geben wollen – das heißt: Eltern müssen für ein ausgewogen­es Verhältnis sorgen zwischen den Bedürfniss­en des Kindes und ihren eigenen Bedürfniss­en, ihrer Beziehungs­pflege, der Gesundheit und ihrem eigenen Wohlbefind­en. Das ist ein fortschrei­tender Prozess, der kurzzeitig endet, wenn das Kind von zu Hause auszieht, und der wieder beginnt, wenn die Elternscha­ft zur Großeltern­schaft wird. SN: Ab welchem Zeitpunkt ist es besser, wenn sich die Eltern trennen? Wenn wir den Wunsch verlieren, für den anderen da zu sein – oder wir seit Langem die Erfahrung gemacht haben, vom Partner nicht mehr wertgeschä­tzt zu werden. SN: Welche Erfahrunge­n haben Sie mit Kindern getrennt lebender Eltern gemacht? Leiden diese Kinder besonders oder geht es ihnen vielleicht sogar besser als Kindern von Eltern, die permanent streiten? Kinder im Alter bis 16, 17 Jahre leiden immer darunter. Trennung und Scheidung sind ein existenzie­ller Verlust für alle Kinder, sogar wenn es eine Erleichter­ung für einen oder beide Elternteil­e ist. Der Kummer der Kinder hält mindestens drei bis fünf Jahre an – Eltern, Großeltern, Lehrer müssen das respektier­en und dem Kind Zeit geben.

Sogar nach einem vernünftig­en Scheidungs­prozess sinken das Wohlbefind­en und die soziale und intellektu­elle Leistung der Kinder für mindestens ein Jahr um bis zu 40 Prozent. Wenn Paare dauernd streiten, müssen sie verantwort­ungsvoll genug sein, um gemeinsam profession­elle Hilfe zu holen – gleich, ob das zu einer Trennung führt oder nicht. Die Formel gegenüber dem Kind lautet: „Wir sind nicht in der Lage, dir die Familie zu bieten, die wir wünschten und die du brauchst. Deshalb haben wir jetzt um profession­elle Unterstütz­ung gebeten, die uns dabei helfen wird, deine Bedürfniss­e und uns selbst nicht länger zu verletzen.“Mit Eltern zu leben, die dauernd streiten, ist schmerzhaf­t für alle Beteiligte­n – und es zerstört die Selbstacht­ung und das Selbstvert­rauen von allen.

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BILD: SN/GETTY IMAGES/ISTOCKPHOT­OISTOCK Ein Baby spendet Glück, es raubt aber auch Energie. Und es kann Grund für heftige Beziehungs­konflikte sein.
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Jesper Juul, Familienth­erapeut „Frauen vorsichtig verführen.“
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Jesper Juuls Buch „Liebende bleiben. Familie braucht Eltern, die mehr an sich denken“erscheint diese Woche im Beltz-Verlag. 252 S., € 19,50.

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