Wenn das Baby die Eltern spaltet
Können sich Väter und Mütter zu viel um die Kinder kümmern? Ja – und das sei eine Gefahr für jede Beziehung, sagt Jesper Juul.
Eltern sollten alles tun, um „Liebende zu bleiben“. So lautet der Titel von Jesper Juuls jüngstem Buch. Der dänische Familientherapeut und Bestsellerautor rät Eltern, mehr an sich selbst zu denken. Väter sollten in der Beziehung die „Liebesminister“sein.
SN: Wie können Eltern nach der Geburt eines Kindes Liebende bleiben? Gibt es da ein einfaches Rezept?
Juul: Nein, aber ich kenne keinen Aspekt des Lebens, der einfach ist oder für den es einfache Lösungen gibt. Entscheidend ist die Denkweise: Es geht darum, sich zu erinnern, dass die Partnerschaft – mit all ihren Konflikten, mit Romantik, Dialog, Sex, Spiritualität –, dass diese Partnerschaft das erstgeborene Kind ist, das nicht zugunsten des zweiten Kindes vernachlässigt werden sollte. Wenn wir es trotzdem tun, vernachlässigen wir alle unsere Kinder. Als Psychotherapeuten für Erwachsene wissen wir, wie viele von den Klienten erkennen müssen, dass sie in Familien aufgewachsen sind, in denen sie nie erlebten, dass sich Vater und Mutter berührten, sich küssten, kokette Blicke austauschten oder in wichtige, tiefgründige Gespräche vertieft waren. Als Erwachsene fehlen ihnen die Vorbilder. SN: Arbeiten gehen und für ein Kind sorgen – das ist schwierig genug für die meisten Eltern. Ist es nicht normal, dass da weder Zeit noch Energie bleibt für die Liebesbeziehung und den Partner? Ich habe immer gesagt, dass die populäre Forderung nach einer Work-Life-Balance eine Illusion ist. Das meiste ist im Ungleichgewicht. Es bleibt ein offener Prozess, der auch immer wieder zu tiefer Befriedigung und großem Glück führt. Die Suche nach dem Gleichgewicht, emotionaler Verfügbarkeit, nach individuellen Bedürfnissen und Wünschen zwischen drei oder mehr Familienmitgliedern ist der „Prozess der Liebe“. Nur wenn wir aufhören damit, verlieren wir den Kontakt zueinander und das Gefühl, wertvoll für das Leben des anderen zu sein. Zeit und Platz zu finden für Sexualität ist schwierig genug für Eltern mit einem bis vier Kindern. Für ein paar Jahre können wir die Spontaneität abschreiben und gelegentlich müssen wir masturbieren, während der andere Elternteil sich um das Baby kümmert oder um den Sechsjährigen, der einen Albtraum hat. SN: Aber was kann eine junge Mutter tun, wenn sie ihren Partner nicht „enttäuschen“will? Und was muss ein Mann tun, um ein guter Vater und zugleich ein guter Ehemann zu sein? Einer meiner Vorschläge lautet: Väter sollten in der Familie die Position des „Liebesministers“ausüben. Nach meiner Erfahrung sehnen sich Männer und Frauen gleichermaßen nach Romantik. Aber Mütter scheinen weniger in der Lage zu sein, den ersten Schritt zu tun. Als Mann und Vater ist es wichtig zu wissen: Je mehr du dich im Ringen um Mamas Aufmerksamkeit in Konkurrenz zum Kind siehst, desto unattraktiver wirst du. Frauen sind normalerweise so in ihren Rollen als Mütter versunken, dass sie immer wieder vorsichtig verführt werden müssen. Sie glauben oft, dass das gemeinsame Ausgehen und der Sex ihnen noch mehr von ihrer Energie rauben. Der Partner hat die süße Aufgabe, der Frau zu zeigen, dass diese Aktivitäten „Energie-Tankstellen“sein können. Ein ähnlicher Konflikt taucht bei vielen Paaren auf, wenn die Frau unzufrieden ist, weil der Mann aus ihrer Sicht zu wenig für die Partnerschaft tut, und sie fordert, dass er weniger arbeitet. Wenn sie ihre legitime Enttäuschung zum Ausdruckt bringt, in Form von Tränen, Ärger und Kritik, wird sie unattraktiv. Beim Mann kommen zum Gefühl der Einsamkeit noch Groll und Schuld dazu. Das hält ihn möglicherweise schließlich von zu Hause fern. SN: . . . und die Lust geht nach und nach flöten. Sex ist immer eine Konsequenz der Qualität der Beziehung, deren wichtigste Qualität wiederum es ist, neue Familienmitglieder zu integrieren, mit Veränderungen, Krankheit, phasenweiser Überlastung durch Arbeit, Studien und Hobbys umgehen zu können. SN: Was sind die häufigsten Fehler, die junge Eltern in der Partnerschaft machen? Dass sie ihre gesamte Energie die ganze Zeit über ausschließlich in das Baby investieren, um gute Eltern zu sein, und beispielsweise deswegen auf Babysitter oder Elternkurse verzichten. SN: Die Geburt eines Kindes löst häufig Konflikte unter den Eltern aus – vor allem in Erziehungsfragen, wenn etwa die Mutter eher streng ist und der Vater eine eher lockere Erziehung will. Wie lässt sich dieser Konflikt lösen? Eine der besten Ideen ist es, schon während der frühen Schwangerschaft Erfahrungen und Gedanken auszutauschen. Erstens: Was waren die Prinzipien und die tägliche Praxis meiner Eltern und wie war das für mich? Das wird helfen, sich gegenseitig kennenzulernen, und zu verstehen, dass nicht alles, was wir denken und glauben, unserem eigenen Kopf entspringt.
Zweiter Schritt: Sagen Sie zu Ihrem Partner, zur Partnerin: „Okay, jetzt weiß ich, wie du zu diesen Schlussfolgerungen gekommen bist. Aber wir sind anders als unsere Eltern und wir haben unser eigenes Kind noch nicht getroffen. Es wird interessant sein zu sehen, ob wir drei unser eigenes Universum aufbauen können.“
Drittens: Es gibt keine „Wahrheit“in der Kindererziehung – weder eine wissenschaftliche noch eine andere. Das größte Geschenk, das wir unseren Kindern und unserer Beziehung machen können, ist es, nicht darüber zu streiten, wer im Recht ist, weil sonst das Kind das Gefühl hat, ein ungeliebter Fremder zu sein, der bei den zwei am meisten geliebten Menschen Probleme auslöst. Dieser Kampf bringt Eltern auseinander, und selbst wenn einer als Gewinner hervorgeht, wird er als solcher einsam sein. SN: Sie schreiben, Eltern sollten mehr an sich selbst denken, anstatt sich nur auf das Kind zu fokussieren. Warum? Und wie soll das gehen? Ich meine damit, dass sie mehr an sich denken sollen, als sie es üblicherweise tun – nicht, dass sie mehr an sich als an das Kind denken sollen. Wer sich um die Beziehung kümmert, kümmert sich in Wirklichkeit auch um das Kind. Jedes Kind braucht eine warme, familiäre Umgebung. Deshalb ist es das größte Geschenk für das Kind, wenn sich Eltern um sich selbst und die anderen Familienmitglieder kümmern. Wenn wir Kinder von null Jahren bis zur Pubertät fragen, sagen sie, sie können nie genug von ihren Eltern haben. Deshalb ist es Aufgabe der Eltern zu definieren, wie viel Zeit sie geben wollen – das heißt: Eltern müssen für ein ausgewogenes Verhältnis sorgen zwischen den Bedürfnissen des Kindes und ihren eigenen Bedürfnissen, ihrer Beziehungspflege, der Gesundheit und ihrem eigenen Wohlbefinden. Das ist ein fortschreitender Prozess, der kurzzeitig endet, wenn das Kind von zu Hause auszieht, und der wieder beginnt, wenn die Elternschaft zur Großelternschaft wird. SN: Ab welchem Zeitpunkt ist es besser, wenn sich die Eltern trennen? Wenn wir den Wunsch verlieren, für den anderen da zu sein – oder wir seit Langem die Erfahrung gemacht haben, vom Partner nicht mehr wertgeschätzt zu werden. SN: Welche Erfahrungen haben Sie mit Kindern getrennt lebender Eltern gemacht? Leiden diese Kinder besonders oder geht es ihnen vielleicht sogar besser als Kindern von Eltern, die permanent streiten? Kinder im Alter bis 16, 17 Jahre leiden immer darunter. Trennung und Scheidung sind ein existenzieller Verlust für alle Kinder, sogar wenn es eine Erleichterung für einen oder beide Elternteile ist. Der Kummer der Kinder hält mindestens drei bis fünf Jahre an – Eltern, Großeltern, Lehrer müssen das respektieren und dem Kind Zeit geben.
Sogar nach einem vernünftigen Scheidungsprozess sinken das Wohlbefinden und die soziale und intellektuelle Leistung der Kinder für mindestens ein Jahr um bis zu 40 Prozent. Wenn Paare dauernd streiten, müssen sie verantwortungsvoll genug sein, um gemeinsam professionelle Hilfe zu holen – gleich, ob das zu einer Trennung führt oder nicht. Die Formel gegenüber dem Kind lautet: „Wir sind nicht in der Lage, dir die Familie zu bieten, die wir wünschten und die du brauchst. Deshalb haben wir jetzt um professionelle Unterstützung gebeten, die uns dabei helfen wird, deine Bedürfnisse und uns selbst nicht länger zu verletzen.“Mit Eltern zu leben, die dauernd streiten, ist schmerzhaft für alle Beteiligten – und es zerstört die Selbstachtung und das Selbstvertrauen von allen.