Salzburger Nachrichten

Er braucht nur die Bibel als GPS

Erst jüngst sorgte die Siedlungsp­olitik Israels wieder für Prostete. Aber wo oft nur Besatzung gesehen wird, sehen Gläubige das Heilige Land der Bibel. Touristenf­ührer vermarkten diese Realität, in der Palästinen­ser nur Störfaktor sind.

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TEL AVIV. Aaron Lipkin braucht keinen Navi. Wenn er sich zurechtfin­den will, kramt er ein dickes rotes Buch aus seinem Rucksack und blättert. Dank vieler Lesezeiche­n findet er schnell die gesuchten Stellen – diesmal aus dem Buch Richter, Kapitel 21, Vers 19: „Siehe, es ist ein Jahrfest des HERRN zu Silo, das mitternach­twärts liegt von Beth-El, gegen Sonnenaufg­ang von der Straße, da man hinaufgeht von Beth-El gen Sichem, und mittagswär­ts liegt von Lebona.“Dabei deutet er mit ausgestrec­ktem Arm auf die Hügel ringsum: „Die biblischen Ortsnamen haben sich über Jahrtausen­de erhalten. Beth-El ist Beithin da hinten. Sichem ist Schchem, Lebona ist das Dorf Luban.“

So wird für Lipkin klar: Die Steine unter ihm sind Überreste von Silo, dem Ort, an dem einst das Stiftszelt der Israeliten stand, ihre erste Hauptstadt im Lande Kanaan. „Mit den heiligen Schriften kann man genau feststelle­n, wo sich die Orte befanden, an denen sich damals die geschilder­ten Ereignisse abgespielt haben.“Im Westjordan­land ist die Bibel besser als jedes GPS.

Die meisten kennen diesen Landstrich aus den Nachrichte­n als „Palästinen­sergebiete“, die Israel seit 50 Jahren besetzt. Die Zeichen der Besatzung sind allerorts: Wachtürme aus Stahlbeton, die die Armee an Landstraße­n errichtete, um Hinterhalt­e palästinen­sischer Terroriste­n zu verhindern; Betonpfeil­er an Bushaltest­ellen, um Attentate mit Pkw zu vereiteln, die Patrouille­n von gepanzerte­n Armeejeeps.

Doch eine wachsende Zahl von Besuchern interessie­rt das Palästinen­serproblem nicht mehr. Sie verwenden die biblische Bezeichnun­g dieses Gebiets: Judäa und Samaria, und suchen hier eine andere Realität. „Es gibt nur eine Wahrheit“, sagt Lipkin, und ergänzt mit der Hand auf der Bibel: „Hier kann man sie erfahren.“

Lipkin ist Reiseunter­nehmer in Ofra, der ersten israelisch­en Siedlung in Samaria. Seit dem Jahr 2011 organisier­t er vor allem für christlich­e Gruppen aus den USA und Frankreich Touren ins Heilige Land. Es sind zehn Tage lange Standardre­isen – mit einem besonderen Dreh: „Meine Gruppen verbringen einen Tag in Samaria und einen in Judäa.“Dabei besichtige­n sie Gegenden, die selbst die meisten Israelis aus Angst meiden. Lipkins Gäste fahren deswegen in gepanzerte­n Autobussen. „Um sie vor Steinen und Brandsätze­n zu schützen“, beruhigt der Reiseunter­nehmer, der sich hier „sehr sicher“fühlt. „Mir ist in den 16 Jahren, in denen ich hier wohne, nie irgendetwa­s Schlechtes widerfahre­n“, beteuert er.

Sein Wagen ist nicht gepanzert und im Gegensatz zu vielen Siedlern hat Lipkin keine Schusswaff­e. Mit Wehmut erinnert er sich an die Zeit vor den Friedensve­rträgen zwischen Israel und der PLO, in denen angeblich „alles friedlich“war. Juden und Araber besuchten einander zu Hause. „Die Priester des arabischen Dorfs nebenan ließen im Laden in unserer Siedlung anschreibe­n.“Der Wunsch nach Harmonie kommt aus tiefstem Herzen. Lipkin, dessen Mutter aus Ägypten floh, spricht fließend Arabisch, er kennt und schätzt die arabische Kultur. Doch er ist gläubiger Jude, und als solcher hat das Westjordan­land große Bedeutung für ihn.

Es mutet wie historisch­e Ironie an, dass der Judenstaat Israel ausgerechn­et an der Küste entstand. Der Großteil der in der Bibel geschilder­ten Ereignisse begab sich nicht im ehemaligen Herrschaft­sgebiet der Philister, sondern im Bergland, das heute als „Palästinen­sergebiet“bezeichnet wird. Wer Zionismus als Rückkehr der Juden zu ihrer alten Heimat begreift, müsste eigentlich aufseiten der Siedler stehen. „Das ist jüdisches Kernland“, sagt Lipkin und zeigt auf die Ruinen von Silo.

Rund 100.000 Touristen zieht es jedes Jahr zur meistbesuc­hten jüdischen Attraktion im Westjordan­land. 369 Jahre lang stand hier das Stiftszelt mit den Zehn Geboten, das erste spirituell­e Zentrum des jüdischen Volks. Hier sprach Rachel vielleicht das erste Gebet der Geschichte, wurde das Land Kanaan an die zwölf Stämme verteilt.

Archäologi­sche Funde scheinen das zu untermauer­n. Bei Ausgrabung­sarbeiten fand man unter Überresten aus byzantinis­chen und muslimisch­en Epochen ein israelitis­ches Stadttor und israelitis­che Tonscherbe­n auf den Hügeln rundum – Überreste der jüdischer Wallfahrts­feste vor Errichtung des ersten Tempels. Die Ruinen von vier byzantinis­chen Kirchen beweisen, dass die jüdische Tradition auch Christen wichtig war. Denn hier wuchs Samuel auf, der David und damit das Geschlecht seines Nachkommen Jesus salbte. Rund 60 Prozent der Besucher sind heute Christen aus aller Welt.

Für die gibt es auch reichlich andere Geschichte. Unweit von Silo steht das arabische Dorf Sinjil auf den Überresten des Kreuzfahre­rdorfs Saint Gilles. Die Dorfmosche­e ist auf dem Fundament der Kreuzfahre­rkirche errichtet, ihre Säulen sind mit Kapitellen der Kirche geschmückt. Im Tal daneben kann man ganz in Räuberroma­ntik schwelgen. Langsam verwittert hier Burdsch Bardawil – eine Kreuzfahre­rfestung, die Reisende im Tal der Diebe schützen sollte. Noch in den 1930er-Jahren trieb hier Abu Dschilda sein Unwesen, der antiimperi­ale Robin Hood der Palästinen­ser, der von der britischen Mandatsmac­ht erhängt wurde, weil er einen Polizisten erschossen hatte.

Lipkins Herz schlägt indes für einen anderen Ort. Auf dem EbalBerg über Nablus befindet sich seiner Meinung nach „die wichtigste archäologi­sche Entdeckung des 20. Jahrhunder­ts“. Vieles spricht dafür, dass die Steinkonst­ruktion, die hier in den 1980er-Jahren entdeckt wurde, der Altar Josuas sei. An diesem habe nach dem Auszug aus Ägypten die Gründungsz­eremonie des jüdischen Volkes stattgefun­den. „Wenn das stimmt, wirft das die Bibelkriti­k über den Haufen. Es beweist, dass die Bibel wahr ist“, so Lipkin. Um den Altar zu erreichen, muss man sich mit der Armee abstimmen und auf eine bewaffnete Eskorte warten.

Noch steckt der Siedlertou­rismus in den Kinderschu­hen. Es fehlt an Restaurant­s, übernachte­n kann man nur in spartanisc­hen Thoraschul­en, in wenigen über Airbnb vermittelt­en Zimmern oder im Hotel Eschel Baschomron in Ariel – das mit eigenem Schießstan­d aufwartet. Doch mit steigenden Besucherza­hlen wächst das Angebot. Illegale Außenposte­n servieren Essen, andere bieten Ziegenkäse feil oder laden zu Mountainbi­king, Trekking und Abseilen ein. „Aber unser Brot und Butter sind Pilger“, sagt Lipkin.

Letztlich dreht sich alles um die Bibel. Auch auf dem Berg Gerisim, neben dem Dorf der Samariter hoch über Nablus. Hier empfängt Winzer Nir Lavi Gruppen mit volkstümli­cher nahöstlich­er Küche. Die Produktion von jährlich 50.000 Flaschen preisgekrö­nten Weins ist für ihn nicht Beruf, sondern Berufung. Er sieht darin die Erfüllung der Weissagung des Propheten Jeremia, Kapitel 31, Vers 5: „Du sollst wieder Weinberge pflanzen an den Bergen Samarias.“

Das ist die „einzige Wahrheit“, die Lipkin seinen Besuchern präsentier­t: dass die Bibel wahr ist und das Wort Gottes in den Bergen Judäas und Samarias wahr wird. Palästinen­ser spielen in dieser Vision höchstens die Rolle störender Komparsen.

„Die Bibel ist wahr. Diese Ruinen von Silo sind jüdisches Kernland.“Aaron Lipkin, Reiseunter­nehmer

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BILD: SN/SN/GIL YARONGIL YARON Aaron Lipkin hat in seiner Bibel alle historisch­en Stätten genau markiert.

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