Beisl-Flair im „Benzintempel“
Nur auftanken und wegfahren, das war einmal. Die Tankstelle ist im Zeitalter des Gasthaussterbens ein sozialer Treffpunkt. Neu ist auch die Tankwart-Rolle: „Falls nötig, wechsle ich auch Windeln.“
GRAZ. Ein schnelles Bummerl an der Theke geht immer: „Wer gibt?“Zwei weiße Mischungen werden serviert und die Kartenspieler stärken sich mit Laugenbrezen. Bald hat das Duo drei Kiebitze, der Schmäh in der Männerrunde rennt: „Und aus. Danke für die Mitarbeit. Haha. Weißt eh: Zum Schnapsen gehören Jahre und 66.“
Szene aus einem Gasthaus? Mitnichten. Das Spiel ging in einer Grazer Tankstelle über die Bühne. Was einst lediglich ein „Kraftstofftempel“war, ist heute ein sozialer Mikrokosmos mit einem zwischenmenschlichen Rundum-Service. „Für viele Personen ist die Tankstelle eine wichtige Anlaufstelle, auch in ihrem Privat- und Sozialleben“, sagt der Grazer Volkskundler Helmut Eberhart. Nach der Diktion des französischen Anthropologen Marc Augé war die Tankstelle ein „NichtOrt“, ähnlich wie die Autobahnraststätte: ein ungreifbarer, identitätsloser Platz für Durchreisende. Das hat sich mittlerweile geändert.
„Der Stammtisch aus dem traditionellen Gasthaus wandert zunehmend in die Tankstellen-Cafés und erfüllt dort dieselbe Funktion des geselligen Austauschs und Verweilens“, sagt Eberhart, der mit Studierenden drei Jahre lang 14 Tankstellen in Graz und zehn weitere steirische Tankstellen empirisch als Orte der Begegnung erforscht hat. „Interessant ist unter anderem die Erkenntnis, dass es bei den Gastronomiebereichen der Tankstellen viele Kunden gibt, die täglich kommen. Darunter gibt es etliche, die ohne Auto kommen“, sagt der Forscher. Die Funktion der Tankstelle ist also nicht mehr auf die bloße Abgabe von Benzin beschränkt. Der Wandel habe, erläutert Helmut Eberhart, bereits am Übergang der 1980er- zu den 1990er-Jahren eingesetzt. „Die ersten Gastrobereiche wurden geschaffen, gleichzeitig begannen die den Tankstellen angeschlossenen Werkstätten zu verschwinden“, berichtet der Volkskundler.
Heute ist es durchaus so, dass die eigentliche Kernkompetenz – die Autowartung – ins Hintertreffen geraten ist. Wer unsicher ist, welches Motoröl er verwenden soll, kann beim Tankwart auf Achselzucken stoßen. Auch ein Wechseln des Abblendlichts ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. „Für das Personal sind die Anforderungen gestiegen. Sie müssen im Shop kassieren, Getränke servieren, fallweise auch Toasts oder andere Kleingerichte zubereiten“, erläutert der Grazer Wissenschafter. Da die Technik bei den Autos immer komplizierter werde, müssten Tankstellenbedienstete in der Praxis oft passen: „Ohne Spezialwerkzeug geht da nichts und Zeit zum Improvisieren ist oft nicht vorhanden.“Nichtsdestotrotz sind viele Tankwarte bemüht, für die Kundschaft umfassend tätig zu sein. Ein Zitat aus der Grazer Studie: „Ich mache alles. Tanken, Öl kontrollieren, Luftdruck messen, Kühl- und Scheibenwasser nachfüllen. Und wenn es sein muss, wechsle ich sogar die Windeln.“Was man an Tankstellen mittlerweile alles kann? Geld beim Bankomaten beheben, Pakete der Post abholen, an Glücksspielautomaten spielen, einkaufen, fernsehen, essen und trinken, Lotto und Toto spielen und noch einiges mehr.
Im Inneren der Tankstelle werden soziale Schranken und Hierarchien abgebaut. Was mit dem verbreiteten „Tankstellen-Du“beginnt, endet mit Verbrüderungen im Café-Bereich, wo auch „der Arbeiter leicht mit dem Hofrat ins Gespräch kommt“(Eberhart). Freilich: Das männerlastige Ambiente kann hier aber schon zu „nicht immer politisch korrekten Diskussionen“und fallweise auch zu sexistischen Äußerungen führen.
Zitat aus der Studie: „Am Anfang sind noch Frauen gekommen, aber die Männer haben sie ja vertrieben mit ihren Blicken und blöden Kommentaren. Die haben sie ja schon ausgezogen, wenn sie nur zur Tür rein sind.“Als erste Tankstelle der Welt gilt die Stadtapotheke Wiesloch im nördlichen Baden-Württemberg. Bertha Benz, die Ehefrau des Automobilpioniers Carl Benz, stoppte dort 1888 auf der ersten dokumentierten Überlandfahrt, weil ihr der Treibstoff ausging. In der Apotheke erstand sie den gesamten Vorrat des Leichtbenzins Ligroin und konnte so ihre Fahrt fortsetzen.
Heute könnten einige Tankstellenbesitzer vom Benzinverkauf allein nicht mehr überleben. Das Café erhöht ebenso wie der Lebensmittelshop die Rentabilität eines Standorts und ist auch ein Kontrapunkt zum weitgehend anonymen Flair der Selbstbedienungs-Zapfsäulen. Letztlich sei der soziale Aspekt auch wichtig für den Faktor Sicherheit: „Die Chance, dass jemand eine Tankstelle mit einem gut besuchten Gastronomiebereich überfällt, ist vermutlich nicht so hoch“, sagt der Volkskundler Eberhart.
„Der Diskurs in Tankstellen ist recht rau.“ Helmut Eberhart, Volkskundler