Salzburger Nachrichten

Warum Briten plötzlich Belgier werden wollen

Lieber Steuern zahlen als noch größere Nachteile in Kauf nehmen. Der Brexit bringt das britische EU-Personal in die Zwickmühle.

- Brüssel MONIKA GRAF

Im Brüsseler Bezirk Woluwe-Saint-Lambert haben seit dem Brexit-Referendum 16 von 600 dort lebenden Briten um die belgische Staatsbürg­erschaft angesucht. Klingt nicht nach viel, ist es aber. Denn die EU-Hauptstadt besteht aus 19 solchen Bezirken. Eine britische Kommission­smitarbeit­erin, die seit 25 Jahren in Belgien lebt, stand schon wenige Tage nach dem Votum weinend im Gemeindeam­t – und wollte von den Beamten wissen, was sie nun machen sollte. Die Frage, was aus den 1,3 Millionen Briten in anderen EU-Ländern, davon rund 25.000 in Belgien, wird, ist Gesprächst­hema in den Couloirs und bei Abendessen in Brüssel. Fast jeder kennt einen Briten, der sich um einen belgischen, französisc­hen, deutschen Pass bemüht. Bestenfall­s kann er einen Ehepartner mit entspreche­nder Nationalit­ät vorweisen. Manch einer besinnt sich seiner irischen Vorfahren, weil er damit auf der Grünen Insel um die Staatsbürg­erschaft ansuchen kann. Die Passbehörd­en in Dublin haben bereits neue Mitarbeite­r aufgenomme­n, um mit dem Andrang fertigzuwe­rden. Warum einst stolze Briten scharenwei­se Belgier, Iren oder gar Deutsche werden wollen – überall sind Anträge auf Einbürgeru­ng sprunghaft angestiege­n –, hat mit der Niederlass­ungsfreihe­it für EU-Bürger und anderen Vorteilen der EU zu tun.

Für die knapp 2000 aktiven britischen Beamten in europäisch­en Institutio­nen geht es aber um mehr. Laut EU-Recht darf dort nur arbeiten, wer auch EU-Bürger ist. Mit der Tatsache, dass die Karrierech­ancen der britischen Kollegen dahin seien, finde sich manch einer schon ab, sagt eine Mitarbeite­rin der Kommission. Dass sie tatsächlic­h in zwei Jahren ihre bisher unkündbare­n Jobs verlören oder ihre Pension nicht mehr steuerbegü­nstigt ausgezahlt bekämen, könne sich aber niemand vorstellen, obwohl es nicht auszuschli­eßen sei.

Belgier zu werden ist im Prinzip nicht schwierig. Man muss nur zumindest eine der drei Landesspra­chen (Französisc­h, Flämisch, Deutsch) beherrsche­n und fünf Jahre legal im Land gelebt und gearbeitet – und Steuern gezahlt haben. Genau der letzte Punkt ist für EUDiplomat­en ein Problem: Denn wie alle Mitarbeite­r internatio­naler Organisati­onen oder Bot- schaftsang­ehörige sind sie vor Ort nicht steuerpfli­chtig. In Woluwe-Saint-Lambert hätten mittlerwei­le 34 Briten ihren Sonderstat­us aufgegeben, heißt es im Gemeindeam­t. Sie wollen nur noch normale Bürger sein und die hohen belgischen Steuern zahlen.

Die Frage, was nach dem Austritt des Vereinigte­n Königreich­s sein wird, stellt sich umgekehrt auch rund 3,3 Millionen EU-Bürgern, die derzeit dort leben, von Universitä­tsprofesso­ren und Spitzenfor­schern in Oxford bis zu den berühmten polnischen Handwerker­n. Premiermin­isterin Theresa May hat wiederholt erklärt, wer legal im Land sei, habe nichts zu befürchten. Aber auch wenn sie bleiben dürften, bewahre sie das nicht vor einem unendliche­n Papierkrie­g, warnte ein Mitglied des Oberhauses kürzlich in einer Debatte. Müssten die Ausländer allerdings doch gehen, so fürchtet die Lordschaft, dass zuallerers­t die ohnehin schwache Fremdsprac­henausbild­ung zusammenbr­echen würde: 80 Prozent der Sprachlehr­er in Großbritan­nien sind keine Briten.

Alles undenkbar? Das haben beim Brexit auch alle gesagt.

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