Hat das Gewissen noch Platz?
„Nach bestem Wissen und Gewissen“, wird oft behauptet, habe man diese oder jene Aufgabe erledigt. Eine Floskel, um Zweifel an der Qualität der Arbeit zu beseitigen. Meist. Aber man sollte sie genauer ansehen.
Wissen und Gewissen gehören offensichtlich zusammen. Bis jetzt wenigstens noch. Gewissen kann ohne Wissen nicht bestehen. Aber Wissen ohne Gewissen? Vielleicht schon, aber dann doch nicht, wenn der Wissensgewinn aus der Forschung ein Ergebnis zeitigt, das den Menschen, womöglich eine Gesellschaft oder gar die Weltbevölkerung bedrohen könnte. Etwa die Atombombe, also das Wissen von der Kernspaltung und ihren Folgen.
Von da an hat – oder besser hätte – man sich intensiv mit dem Phänomen Gewissen beschäftigen müssen. Denn vom privaten zum gesellschaftlichen und internationalen Wohl sind es nicht viele Schritte. Und hier spielt das Gewissen in jedem Fall eine Rolle, sodass man es zu Recht als Erscheinung ansieht, die jedem Menschen zu eigen ist (bei entsprechender Erziehung).
Dem wird entgegengehalten: Das war gestern. Was also ist das Gewissen, auf das man sich berufen möchte? Der griechische Philosoph Sokrates sprach von seinem „Daimonion“, einer Stimme (kein Dämon im heutigen Sinn), einem Forum internum, auf dem abgewogen wird: Was ist besser, was ist schlechter, was geht gar nicht? Der Einzelne, der auf diese Stimme hört, hat es dabei wahrscheinlich leichter als etwa ein Politiker. Denn nicht alles, was dem Einzelnen von seinem Daimonion anempfohlen wird, mag auch gut sein für eine ganze Gesellschaft.
Wissen und Information müssen assistieren. Denn das Phänomen Gewissen ist schwierig zu fassen, wenn überhaupt. Ohne jegliche Bindung an eine Religion, rein dem Menschen und dem Menschlichen verpflichtet, gilt als allgemeines Gut zu wissen: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Die Goldene Regel.
Daran orientiert, kann das Gewissen nicht flotieren, es kann aber irren. Es gilt also auch, dass die Freiheit des Menschen ins Spiel kommt, gleich, welchem Kulturkreis er entstammt. Die Normbindung über die Goldene Regel hinaus darf zwar nicht übertrieben werden, doch bei Verrücktheiten von Staatenlenkern ist der Aufschrei der Vernünftigen in aller Welt als Korrektiv zu sehen.
Die Freiheits- und Menschenrechte, die international gelten, sind sozusagen die in Formeln gegossenen ehernen Tafeln, die das Miteinander der Menschen garantieren. Daran darf kein Zweifel aufkommen. Kein Gewissensentscheid kann sich darüber erheben.
Was aber tut nun eine Politikerin, ein Politiker, was tun Abgeordnete im Parlament mit dieser Stimme, die ihnen sagt, dem kannst du zustimmen, das kannst du verantworten, oder aber: wenn du diesem Beschluss des Klubs zustimmst, wird dir dann ein anderer aus dem Spiegel entgegenschauen?
Die vor Kurzem verstorbene große Liberale Hildegard Hamm-Brücher hat das Problem des Gewissens zeit ihres Politikerlebens umgetrieben. Aus ihrer Abgeordnetenpraxis gab sie Ratschläge: Dem Abgeordneten könne von keiner Instanz abgenommen werden, selbst über drei Fragen zu befinden: Ob eine Entscheidung für ihn eine Gewissensfrage ist oder nicht; ob ihn seine Gewissensentscheidung zur Mehrheit oder zur Minderheit führt und wie er sich schließlich in diesem Loyalitätskonflikt entscheidet.
Hamm-Brücher meint in ihrer Arbeit „Der Politiker und sein Gewissen. Eine Streitschrift für mehr Freiheit“, dem großen Fraktionszwang könne man sich mit etwas Zivilcourage noch entziehen. „Die kleinen Zwänge aber, die die eigene Gewissenhaftigkeit strangulieren, machen das eigentliche Gewissenselend des Abgeordneten aus.“
Globaler und skeptischer formulierte der ehemalige Politikwissenschafter und Soziologe an der Universität Würzburg, Lothar Bossle, wenn er fragte: „Wo hat angesichts einer Einzwängung des Menschen ein herausragendes Handeln aus dem Gewissen noch einen Platz . . .?“Es sei die Frage, ob das Massenzeitalter Gewissensentscheidungen des Menschen noch zulasse. Und: Ist die Prüfung der menschlichen Handlungen nach Kategorien des Gewissens nur noch ein Reservat der privaten Existenzbewältigung?
Das Gewissen sei kein zusätzlich erwerbbares „Luxusgut“, formulierte der deutsche Naturwissenschafter und Nobelpreisträger Max Born, sondern ein fundamentaler Bestandteil der menschlichen Ausstattung. Es ist die Fundierung der Verantwortung, die über Gut und Böse bzw. Schlecht urteilt. Die Wichtigkeit des Gewissens in der Politik, wo von Gewissen geredet, aber nach Parteiräson, Machterhalt und Privatinteressen gehandelt wird, steht somit außer Diskussion.
Was bleibt, ist die notwendige Anerkennung eines objektiven Normwillens. Und diese Normen – die Freiheits- und Menschenrechte – sind aus der abendländisch-europäischen – also der jüdischen, griechischen, römischen und schließlich christlichen – Kultur in säkularisierter Form auf uns gekommen. Das Gewissen hat nie ausgedient.