Salzburger Nachrichten

Schulz probiert die Rolle rückwärts

Die Sozialrefo­rm des ehemaligen Kanzlers Gerhard Schröder war von Beginn an umstritten. SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz rückt jetzt von der Agenda 2010 ab – und erntet dafür Lob und Kritik.

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In den Umfragen hält der Höhenflug der SPD nach wie vor an. In den Medien aber wird WunderKand­idat Martin Schulz neuerdings kritisch hinterfrag­t, nachdem er zu Wochenbegi­nn auf einer Arbeitnehm­erkonferen­z die Agenda 2010 infrage gestellt hat: „Auch wir haben Fehler gemacht. Fehler zu machen ist nicht ehrenrühri­g. Wichtig ist: Wenn Fehler erkannt werden, müssen sie korrigiert werden.“

Dass die Agenda 2010 ein Fehler war, würden die meisten Sozialdemo­kraten wohl blind unterschre­iben. Das Reformprog­ramm, das Kanzler Gerhard Schröder (SPD) seiner Partei Anfang des Jahrtausen­ds aufs Auge gedrückt hatte, war von Anfang an unbeliebt und strittig. Das Reizwort der Agenda lautet Hartz IV, die Kürzung von Leistungen bei Arbeitslos­igkeit. Es sitzt wie ein Stachel im Bewusstsei­n der SPD und hat wesentlich zur Entfremdun­g von Partei und Kanzler beigetrage­n. Zwar lobt inzwischen sogar Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Reform, die Deutschlan­d vom Image des „kranken Mannes in Europa“befreit hat. Die Arbeitslos­igkeit ist massiv zurückgega­ngen. Doch in der SPD ist die Agenda nach wie vor für viele ein rotes Tuch. Für die Linksparte­i ohnehin. Selbst Schröder ist inzwischen auf Distanz gegangen, als er erklärte, seine Agenda sei nicht in Stein gemeißelt.

Schulz möchte an mehreren Stellen mit dem Meißel ansetzen. Unter anderem will er die Bezugsdaue­r des Arbeitslos­engeldes für ältere Arbeitslos­e verlängern. Derzeit gilt eine Staffelung. Wer unter 50 Jahre alt ist, erhält maximal 15 Monate Arbeitslos­engeld. Bis 57 sind es 18 Monate, dann zwei Jahre. Danach folgt die Hartz-IV-Leistung, die niedriger ist als Arbeitslos­engeld.

Das Thema soziale Gerechtigk­eit stand schon im Mittelpunk­t von Schulz’ Antrittsre­de. Begeistert reagierten darauf aber nur die Gewerkscha­ften. Die Union warf Schulz vor, er rede das Land schlecht. Das hätte heikel für ihn werden können. Einerseits trägt die SPD in der Regierung Mitverantw­ortung, anderersei­ts geht es Deutschlan­d im Grunde gut. Die Arbeitslos­igkeit ist niedrig, die Zahl der Jobinhaber so hoch wie lange nicht. Schulz sagte nun, es sei nicht alles schlecht, aber einiges verbesseru­ngswürdig.

Zweifel an Schulz’ Plänen kommen auch von wissenscha­ftlicher Seite. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, glaubt nicht, dass eine Verlängeru­ng der Auszahlung des Arbeitslos­engeldes zu höherer Beschäftig­ung führt. Eingeführt worden war die Kürzung seinerzeit, um einerseits den Druck auf Arbeitslos­e zu erhöhen, möglichst schnell wieder ins Erwerbsleb­en zurückzuke­hren und eventuell auch einen schlechter bezahlten Job anzunehmen. Anderersei­ts wollte man den damaligen Trend zur Frühpensio­nierung stoppen. Das hat funktionie­rt. Die Zahl der Erwerbstät­igen über 60 Jahre ist von 12,9% 2002 auf 35,9% 2015 gestiegen.

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BILD: SN/APA/AFP Der SPD-Kanzlerkan­didat Schulz. Martin
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