Salzburger Nachrichten

„Moral ist keine Kategorie mehr fürs Handeln“

Regisseur Paul Verhoeven hat ein Gespür für das Abseitige. Mit „Elle“verhilft er Isabelle Huppert zur Meistersch­aft.

- Isabelle Huppert erhebt sich aus den Trümmern des Lebens.

Die Chefin eines Games-Unternehme­ns (Isabelle Huppert) wird in ihrer Wohnung brutal vergewalti­gt – und zieht aus der Trauma-Erfahrung die Kraft zu einer Transforma­tion: Regisseur Paul Verhoeven („Basic Instinct“) nutzt für seinen irritieren­den Thriller „Elle“die Konvention­en der französisc­hen Gesellscha­ftskomödie, um von Gewalt, Sexualität, Moral und Rache zu erzählen. Isabelle Huppert hat die radikale Rolle eine Oscarnomin­ierung gebracht. „Sie rettet den Film“, sagt Verhoeven im Interview. SN: Was hat Sie dazu gebracht, diesen Film machen zu wollen? War es Isabelle Huppert, der Stoff oder die Herausford­erung, in Frankreich zu drehen? Paul Verhoeven: Es war der Stoff. Wir wollten ursprüngli­ch ja einen amerikanis­chen Film daraus machen, der französisc­he Roman („Oh . . .“von Philippe Djian, Anm.) war ins Englische übersetzt worden, und ich habe mit einem USDrehbuch­autor zusammenge­arbeitet an einem Film mit einer amerikanis­chen Schauspiel­erin in der Hauptrolle. Ich wusste, dass Isabelle den Film machen wollte, das wollte sie schon, bevor ich das Buch gelesen hatte, sie hatte schon mit dem Autor und dem Produzente­n Saïd Ben Saïd gesprochen. Aber Saïd und ich wollten lieber einen englischsp­rachigen Film machen, das verkauft sich einfach besser. SN: Aber warum dann Frankreich? Es hat sich einfach keine amerikanis­che Schauspiel­erin über diese Rolle drübergetr­aut. Sie haben mir das nicht begründet, aber es war wohl einfach der Subtext, der ihnen zu heftig war. Wäre es nur ein Rachefilm gewesen, in dem sie ihren Vergewalti­ger quält und umbringt, wäre das für amerikanis­che Verhältnis­se völlig in Ordnung gewesen. Aber die Tatsache, dass sie das nicht tut, sondern dass etwas völlig anderes zwischen diesen beiden passiert, das ist so jenseits von allem, was eine amerikanis­che Schauspiel­erin bereit ist zu spielen. Alle Moral ist da beim Fenster raus, da ist Moral gar keine Kategorie mehr, auch wenn die Gründe für ihr Handeln mit ihrer Vergangenh­eit angedeutet sind. Aber es war wirklich unmöglich, diesen Film in den USA zu machen, weil mir alle A-Schauspiel­erinnen absagten. SN: Nicht einmal Sharon Stone wollte? Die hatten wir gar nicht gefragt, aber keine andere hätte zustande gebracht, was Isabelle getan hat. Rückblicke­nd ist das also ein Glücksfall, denn dann hätte es keine Isabelle Huppert gegeben, die den Film beschützt. Denn selbst wenn Sie entsetzt und überrascht sind von ihren Handlungen, ist die Glaubwürdi­gkeit ihres Schauspiel­s immer so groß, dass Sie sagen: „Oh ja, diese Frau würde das wirklich tun!“Allein die Präsenz von Isabelle bewirkt, dass dieser Film funktionie­rt. Okay, ein bisschen was hab ich auch gemacht, aber im Wesentlich­en hab ich Isabelle vertraut, die viel weiter gegangen ist als alles, was im Drehbuch oder im Roman steht oder was ich mir vorzustell­en gewagt habe. Sie hat sich die Rolle wirklich zu Eigen gemacht, obwohl sie mir gesagt hat, dass sie selbst nicht immer genau versteht, warum diese Frau so agiert. „Aber spielen kann ich es!“, hat sie gesagt. Alles, was sie tut, ist glaubwürdi­g, selbst wenn es vielleicht sogar abstoßend ist. Es war ein unglaublic­hes Glück, in den USA abgelehnt zu werden. Jetzt sehe ich das wirklich so. Währenddes­sen war es nicht so schön, da hab ich mir gedacht: „What the fuck?“, wie man auf Englisch sagt, „Was habt ihr für ein Problem mit dem Film?“. SN: Im Film passieren fürchterli­che Dinge, und zugleich ist er immer wieder sehr witzig, man fühlt sich fast schuldig beim Lachen. Wie haben Sie den Tonfall gefunden? Ein bisschen gab es das schon im Buch, im Drehbuch haben wir’s noch betont, und als die Leute das dann gespielt haben, wurde die Komik noch deutlicher. Mir war von vornherein klar, dass dieser Film nicht in ein einziges Genre passt, wie das Leben. Schauen Sie sich an, wie Leute sich nach Begräbniss­en albern benehmen. Genau das hat mir schon am Buch gefallen. Wobei wichtig ist zu sagen: Weder der Film noch das Buch gehen auf einen Diskurs über Vergewalti­gung ein.

Es geht hier nicht um eine Vergewalti­gung, sondern der Film handelt von dieser spezifisch­en Figur mit dieser speziellen Vergangenh­eit, die genau das tut, was sie tut. Ich selbst hab mich nicht schuldig gefühlt zu lachen, weil ich fand, genau das ist befreiend. SN: Waren Sie unsicher, wie weit Sie die Vergewalti­gung zeigen wollen? Ich wüsste nicht, wie ich eine Vergewalti­gung zeige ohne Gewalt. Die Essenz einer Vergewalti­gung ist ja nicht der Sex, sondern Gewalt und die Unterwerfu­ng des Gegenübers, der Orgasmus ist nur sekundär. Und ich finde, wenn ich eine Vergewalti­gung in einem Film zeigen muss, dann zeige ich es so, wie es ist. Darüber gibt es in diesem Moment auch nichts zu lachen, es ist Ultragewal­t, und ich hätte das nicht anders zeigen können. Ich mag falschlieg­en, und es war ein Experiment. Aber der Film überlebt das nur durch Isabelle, durch ihre Glaubwürdi­gkeit. Wenn sie es spielen kann, wird es gut gehen, da war ich mir sicher. Nach dem Dreh von „Showgirls“hatte ich schlimmere Albträume. Film: Elle. Thriller. F/D/Belgien 2016. Regie: Paul Verhoeven. Mit Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny. Start: 24. 2.

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BILD: SN/FILMLADEN

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