Wer schreibt Wikipedia?
Was die Welt zusammenhält. Vor 16 Jahren wollte der US-Amerikaner James Wales weltweit kostenlosen und werbefreien Zugang zur Bildung ermöglichen. Vier Wochen nach dem Start freute er sich über 600 verfasste Artikel. Heute sind es mehr als 43 Millionen. W
Das Internet, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2001. Dies sind die Abenteuer der MS Wikipedia, die unterwegs ist, um Wissen kostenlos zugänglich zu machen. Viele Lichtjahre von der Spaßgesellschaft und dem respektlosen Umgang mit Fakten entfernt dringt sie dabei in Galaxien vor, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat. Wikipedia als Raumschiff Enterprise? Das war einmal. Heute sitzt Beppo Stuhl wie ein Wissensveteran vor seinem Computer und hat Vandalen im Visier. Er meint damit halbstarke Schüler, die Nonsense-Artikel mit Titeln wie ,Susi ist doof‘ anlegen. Die meisten „Angriffe“erfolgen frühmorgens. „Da sind sie auf dem Schulweg“, sagt Stuhl. Er kennt seine Pappenheimer. 16 Jahre nach der Gründung von Wikipedia sei so ziemlich alles aufgeschrieben, was es aufzuschreiben gebe – meint Stuhl. Wer heute noch einen weißen Flecken in der Wissenschaft finde, der habe den Jackpot für Wikipedia-Redakteure gezogen. Denn eine neue Seite mit Wissen zu beschreiben, das sei der pure Nervenkitzel. Man könne süchtig danach werden.
Stuhl hat bei Wikipedia den Rang eines Administrators. Mehr geht nicht. Für diese Funktion reicht es nicht, fleißig zu sein. Man wird gewählt. Sein junger Berliner Kollege Nico Völker ist noch „Sichter“. Die beiden waren mit Kollegen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz vergangenes Wochenende in Salzburg. Freiwillig. Bezahlt wollen sie auch nicht werden. Sonst würde ihre Mission ja nicht funktionieren. Sie wollen Bildung weltweit für jedermann zugänglich machen. Kostenlos. So hat es sich 2001 der US-Amerikaner James Wales vorgenommen. Kostenlos und werbefrei – was für ein Projekt! Wales wusste: Wissen ist Macht. Heute ist er sich da nicht mehr ganz sicher. Donald Trump schafft es ja gerade, das Motto „Nichts wissen macht auch nichts“endgültig salonfähig zu machen.
Der Erfolg von Wikipedia wurde nur dank der revolutionären Wiki-Software möglich. Das ist ein frei verfügbares System, mit dem jeder Nutzer ohne großen Aufwand Websites anlegen kann. Heute gibt es bereits mehr als 43 Millionen Artikel.
Jetzt gesellt sich Christian Philipp zur Gruppe. Auch er ist Wiener. Philipp erinnert mit seinem gütigen Lächeln und seinem weißen Rauschebart ein wenig an den lieben Gott. Aber wer weiß schon, wie Gott wirklich aussieht? Davon kann man sich nicht einmal bei den Standard-Lexika „Brockhaus“oder „Encyclopaedia Britannica“ein Bild machen. Auch der Berliner Administrator Sebastian Wallroth ist heute da. Und Heinrich Pniok aus Hamburg. Er wirkt ein wenig wie Robert Langdon aus den Thrillern von Dan Brown. Sogar das Feuilleton schreibt schon, Langdon sei eine Art „James Bond mit Wikipedia-Lizenz“. Wenn da nicht noch die Wienerin Susanne Plank wäre – man könnte fast glauben, Wikipedia sei ein männlicher Geheimbund.
Tatsächlich sind nur 16 Prozent aller Wikipedia-Autoren weiblich. Dem Gründer James Wales scheint das irgendwie peinlich zu sein. Der Presseagentur dpa sagte er kürzlich: „Wir würden uns mehr weibliche Mitglieder wünschen und müssen offensiver auf Frauen zugehen. Allerdings gibt es in vielen technischen Berufen deutlich mehr Männer als Frauen. Das ist ein globales Problem.“Wenn James Wales so etwas sagt, dann fühlen sich seine Autoren angesprochen. So in der Art: „Hey Jungs! Recherchiert das mal. Legt neue Artikel an und liefert uns Erkenntnisse über diese – wie heißen sie noch mal? Ach ja: Frauen.“
Wikipedia ist zur Wissensmaschine geworden, die ohne Unterlass Nachrichten und Fakten frisst und Edits ausspuckt. Edits? „Du musst 200 Edits schreiben, die von den ,Sichtern‘ als unbedenklich und veröffentlichungswürdig betrachtet werden“, erklärt Beppo Stuhl. Dann kann man „Sichter“werden und die Wikipedia-Außengrenzen vor Vandalen-Angriffen schützen.
Wer es auf Wikipedia zum „Sichter“geschafft habe, der könne auch veröffentlichen, was er wolle, sagt Stuhl. Solange kein Administrator misstrauisch wird. Der Administrator nämlich, also so einer wie Beppo Stuhl, hat die heiß begehrte Lizenz zum Löschen. Die am meisten gefürchtete Waffe unter allen Wikipedia-Autoren.
Weitgehend ohne Probleme können nur Artikel gelöscht werden, die nicht ausreichend mit Quellen belegt sind. Und die von rangniederen Wiki-Autoren stammen. Trifft ein Administrator einmal auf einen Admi- nistrator, der anderer Meinung ist, dann kann es auf Augenhöhe brutal zugehen. Wie in der Natur strebt man auch auf Wikipedia nach Fortpflanzung und Ruhm. Womit wir nebenbei auch wieder bei der Diskussion wären, warum kaum Frauen Artikel für Wikipedia verfassen. Das Recht, Schlachtfelder zu betreten, ist eben meistens Männern vorbehalten.
Der Eindruck drängt sich auf, dass Wikipedia ein recht interessantes Eigenleben führt. Wenn man die Abläufe bei Wikipedia genau beobachtet, dann fühlt man sich schon ein wenig an „1984“von George Orwell erinnert. Einen „Big Brother“sucht man aber vergebens. Auch die Kritiker an den Universitäten haben Wikipedia inzwischen lieb. Von Misstrauen keine Spur. Im Gegenteil: Heute dürfte der Anteil von Professoren, die ihre Seminararbeiten selbst auf der Basis von Wikipedia geschrieben haben, außergewöhnlich hoch sein. Das geben zumindest Plagiatsjäger wie Debora WeberWulff, Professorin für Medieninformatik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, zu bedenken.
Der Vorteil von Wikipedia liegt auf der Hand: Es ist die enorme Schnelligkeit der Aktualisierung von Wissen. Der Gefäßchirurg Thomas Hölzenbein lädt zu einem provokanten Gedankenspiel ein: „Nehmen wir nur den Chirurgen Ferdinand Sauerbruch. Der galt um 1920 als Genie. So steht es im Lexikon. Aber Sauerbruch würde mit seinem damaligen Wissen heute bei jeder Aufnahmeprüfung durchfallen.“
Wie geht nun eine Löschung eines Eintrags vor sich? Ein Administrator setzt den Vermerk „Dieser Artikel wurde zur Löschung vorgeschlagen“auf die betreffende Seite. Unter dem Hinweis „Zur Löschdiskussion“gelangt man dann zu einer basisdemokratisch geführten Verhandlung über das Ansinnen. Da geht es oft wild her. Aber im Grunde lebt Wikipedia von der Anpassung und dem Auslöschen, um wieder Platz zu schaffen. Sogar der Gründer von Wikipedia, James Wales, greift immer noch in bestehende Artikel ein. Zuletzt korrigierte er als Spezialist für das britische Königshaus den Eintrag über Kate Middleton: „Ich habe ihren Eintrag in ,Catherine, Duchesse of Cambridge‘ geändert“, sagt er. „Ich saß vor dem Fernseher und dachte nur: ,Beeil dich, bevor jemand anderer es tut.‘“
So viel Glück hatte Beppo Stuhl schon lang nicht mehr. Der Geologe hat mehr als 40.000 Edits auf seinem Konto. Sein Spezialgebiet sind „Schwarze Raucher“. Das sind Unterseevulkane, in deren Umfeld sich speziell angepasste Tiere aufhalten. Er forschte wie verrückt und schrieb wie der Teufel. Ein weißer Fleck in der Unterwasserwelt nach dem anderen verschwand, ein seltenes Tier nach dem anderen wurde von ihm bis ins Detail durchleuchtet.
Und heute? „Heute hofft man auf neue Nobelpreisträger, Biografien und andere Routinearbeiten“, sagt Stuhl. Abenteuer ist das keines mehr.
Stuhl ist am Ende einer spannenden Reise. Er schrieb mit am modernsten Onlinelexikon der Welt. Heute sehnt er sich nach einer Zeit, in der es wieder Geheimnisse gibt. Einmal, als ein Tsunami vor Thailand und Indonesien Hunderttausenden Menschen das Leben kostete, schaffte es einer seiner Artikel in die Top 100 von Wikipedia. Er handelte von Plattentektonik. Das interessiert sonst kaum jemanden. Weil der Anlass seines „Erfolgs“so traurig war, hielt sich aber sein Jubel in Grenzen.
Die Administratoren beobachten diese Entwicklung in Richtung „Nachrichtenmagazin“mit einer gewissen Sorge. Stolz macht sie indessen, dass ihr Lexikon immer noch kostenlos und werbefrei ist. Wo gibt es so etwas noch?
Kürzlich schaffte es Wikipedia wieder in die Schlagzeilen, weil sie die englische Tageszeitung „Daily Mail“nicht mehr als Quelle akzeptiert. Das ist ein Armutszeugnis für den Journalismus, wenn freiwillige Autoren von Wikipedia professionellen Schreibern ihre Referenz aberkennen. Wikipedia hat jetzt Macht. Heute würde die deutsche Printausgabe von Wikipedia 3406 gedruckte Bände ausmachen. Das veranschaulichte der amerikanische Künstler Michael Mandiberg im Vorjahr mit einer Installation in der Berliner Galerie Import Projects.
Wir schreiben also das Jahr 2017. Die MS Wikipedia hat viele Abenteuer bestanden. Und ihr Werk funktioniert. Wenn heute jemand etwas genau wissen will, dann sucht er bei Wikipedia. In ein paar Sekunden hat er die Antwort. 16 Jahre hat es gedauert, bis dieses Riesenprojekt umgesetzt wurde. Das klingt nach dem Bau des Turms von Babel.
Aber es war nur ein Puzzlespiel.
Wir würden uns mehr weibliche Mitglieder wünschen. James Wales, Wikipedia-Gründer Unsere letzte Hoffnung sind Nobelpreisträger und Biografien. Beppo Stuhl, Administrator