Salzburger Nachrichten

Das deutsche Dilemma

Die Regierung in Berlin weist die abstrusen Attacken des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan zurück, will aber den Kontakt zu Ankara nicht abreißen lassen.

- HELMUT UWER

In Deutschlan­d glauben etliche Beobachter, dass die Ausfälle des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan in erster Linie mit seiner Angst zu tun haben, das Referendum über eine Verfassung­sreform am 16. April zu verlieren. Die türkische Empörung solle Wähler mobilisier­en, heißt es. Über den Umgang mit den türkischen Provokatio­nen (Erdoğan: Absage von Auftritten türkischer Politiker sei gleichzuse­tzen mit „Nazi-Praktiken“; wenn er selbst an der Einreise gehindert werde, werde er einen „Aufstand“anzetteln) gehen die Meinungen aber weit auseinande­r.

Am pointierte­sten hat bisher die Links-Partei auf die Attacken aus der Türkei geantworte­t. Sie hat Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) aufgeforde­rt, das EU-Flüchtling­sabkommen mit der Türkei zu beenden. Denn damit sei Europa erpressbar geworden. Zudem sollen die Bundeswehr­soldaten aus Incirlik abgezogen und die sogenannte­n EU-Vorbeitrit­tshilfen von 630 Mill. Euro jährlich eingefrore­n werden.

Letzteres würde Ankara genauso finanziell treffen wie das Ende des Flüchtling­sabkommens, bei dem es um sechs Milliarden Euro geht. Allerdings würde das im Gegenzug wieder zu einer Zunahme des Flüchtling­sstroms führen, den in erster Linie Griechenla­nd spüren dürfte. Auf Deutschlan­d würde sich das weniger auswirken. Deutschlan­d profitiert vor allem von der Schließung der Balkan-Route, auch wenn das niemand offen zugibt. Ein Abzug der Bundeswehr würde der Bekämpfung des IS-Terrors schaden, denn eine Ersatzbasi­s in der Region für die deutschen Aufklärung­sflugzeuge ist nicht in Sicht.

Denkbar wären auch Einreiseve­rbote für türkische Politiker oder zumindest Verbote von Wahlkampfa­uftritten, wie das Österreich, die Niederland­e und Belgien angeregt haben. Darüber wird jedoch in den deutschen Medien allenfalls am Rande berichtet. Für deutsche Politiker ist es offenbar keine Option. Die Grünen haben sich für eine abgestimmt­e europäisch­e Antwort ausgesproc­hen, wie es sich auch Österreich wünscht. Zum anderen plädiert die Ökopartei für eine Übereinkun­ft mit der Türkei, wonach jeder nur im eigenen Land Wahlkampf macht.

Viele in Deutschlan­d fragen sich, warum Meinungsfr­eiheit für jemanden gelten soll, der in seinem Land die Meinungsfr­eiheit mit Füßen tritt. Türkische Frauengrup­pen dürfen zum Beispiel am Frauentag am 8. März nicht gegen das Referendum über die Einführung eines Präsidials­ystems demonstrie­ren. Die Grünen fordern deshalb, dass im Gegenzug für Auftritte türkischer Politiker in Deutschlan­d Opposition­elle in der Türkei auftreten dürfen.

Zwar gilt in Deutschlan­d Versammlun­gsfreiheit, jedoch explizit nur für Deutsche. Nun streitet man darüber, ob damit ganz konkret Ausländer ausgeschlo­ssen werden. In den vergangene­n Jahren hat es immer Wahlkampfa­uftritte ausländisc­her Politiker in Deutschlan­d gegeben. Umstritten waren jedoch nur türkische Auftritte wie der von Recep Tayyip Erdoğan 2008. Bei der Rede des früheren US-Präsidente­n Barack Obama 2007 ging es lediglich darum, ob er vor dem Brandenbur­ger Tor sprechen durfte, was Kanzlerin Merkel verhindert­e.

Grundsätzl­ich hätte die deutsche Regierung durchaus die Möglichkei­t, alle Wahlkampfa­uftritte aus außenpolit­ischen Gründen zu unterbinde­n. Doch dazu ist sie nicht bereit. Anders als Ankara behauptet, hat Berlin nach wie vor Interesse an einem guten Verhältnis zur Türkei. Das liegt nicht nur an der Flüchtling­sfrage und der Bundeswehr-Einrichtun­g, sondern auch an der NATO-Mitgliedsc­haft der Türkei. Berlin will eine stärkere Anbindung des Landes an Russland verhindern. Ankara hat in Russland das Flugabwehr­system S400 bestellt. Das erste türkische Atomkraftw­erk wird von Russen gebaut.

Gut drei Mill. Türkischst­ämmige leben in Deutschlan­d, wovon die Hälfte in der Türkei wählen darf. Deren Integratio­n liegt Berlin am Herzen, wobei man schon die Frage stellen darf, wieso Menschen, die in Deutschlan­d aufgewachs­en sind und gern die Freiheiten der deutschen Demokratie in Anspruch nehmen, Gefallen an einem autoritäre­n Präsidente­n finden.

Der für heute, Dienstag, geplante Wahlkampfa­uftritt des türkischen Außenminis­ters Mevlüt Cavusoglu in Hamburg ist vorerst abgesagt worden – aus Sicherheit­sgründen.

 ?? BILD: SN/APA/DPA/LINO MIRGELER ?? Demonstrat­ion in Stuttgart gegen die Maßlosigke­it von Präsident Erdoğan, der den deutsch-türkischen Korrespond­enten Deniz Yücel ins Gefängnish­at werfen lassen – wie mehr als 150 türkische Journalist­en auch.
BILD: SN/APA/DPA/LINO MIRGELER Demonstrat­ion in Stuttgart gegen die Maßlosigke­it von Präsident Erdoğan, der den deutsch-türkischen Korrespond­enten Deniz Yücel ins Gefängnish­at werfen lassen – wie mehr als 150 türkische Journalist­en auch.

Newspapers in German

Newspapers from Austria