Salzburger Nachrichten

Die toten Babys von Tuam

In einem Massengrab eines ehemaligen Mutter-Kind-Heims wurden 800 Kinderleic­hen gefunden. Warum die irische Kirche erneut von ihrer dunklen Vergangenh­eit eingeholt wird.

- SN, dpa

TUAM. Die westirisch­e Kleinstadt Tuam gilt als eher beschaulic­her Ort. Für viele alleinsteh­ende Mütter und ihre Kinder muss er bis vor etwa 55 Jahren aber die Hölle gewesen sein. Denn hier wurden Unverheira­tete in einem Mutter-Kind-Heim gedemütigt, als Arbeitskrä­fte ausgebeute­t und deren tote Kinder wie Abfall verscharrt. Gerüchte und Indizien dafür gab es schon länger. Das Ausmaß kommt aber erst jetzt ans Licht: Ermittler entdeckten auf dem Grundstück des Heims ein Massengrab mit Kinderleic­hen.

Sie fanden in 17 von 20 unterirdis­chen Kammern menschlich­e Überreste in „erhebliche­n Mengen“– Föten und Kleinkinde­r im Alter bis zu drei Jahren. Das St. Mary’s Mother and Baby Home wurde von 1925 bis 1961 von Nonnen betrieben. Sie gehörten dem katholisch­en Orden The Sisters of Bon Secours an. Die Leichen stammen Untersuchu­ngen zufolge höchstwahr­scheinlich aus dieser Zeit.

Kinder, die in der Einrichtun­g starben, wurden einem ehemaligen Heimbewohn­er zufolge „wie Müll“weggeworfe­n. „Es gab Hunderte Kinder in dem Heim. In meinen Augen war das wie eine Kaninchenk­olonie“, sagte der Mann dem „Irish Mirror“. Die Kinder litten, wie er selbst auch, unter vielen Krankheite­n. Er wurde 1947 in dem Heim geboren, von seiner Mutter getrennt und zur Adoption freigegebe­n.

Ein anderer ehemaliger Bewohner des Heims berichtete der Zeitung „Irish Times“, seine Mutter habe wie eine Sklavin für die Nonnen arbeiten müssen. Mutter und Sohn fanden sich erst 2010 wieder. Opfer haben auch den Verdacht geäußert, dass in Tuam noch nicht zugelassen­e Impfstoffe an den Kindern getestet worden seien.

Den Fall ins Rollen brachte die Historiker­in Catherine Corless (62). Sie fand im Sterberegi­ster Einträge für fast 800 Kinder, die im Laufe der 36 Jahre in dem Heim gelebt hatten. Aber nur für ein Kind konnte sie nachweisen, dass es beerdigt worden war. Wo waren die anderen? Als sie der Sache auf dem Grundstück des Heims habe nachgehen wollen, sei sie gefragt worden: „Warum machst du das? Wenn da Leichen sind, dann lass sie dort doch liegen.“Viele hätten Bescheid gewusst, aber alles verheimlic­ht, sagte Corless. Es soll schon zuvor viele Hinweise auf das Massengrab gegeben haben. Anrainer haben Berichten zufolge geglaubt, dass es sich bei ersten Knochenfun­den um Opfer der irischen Hungersnot im 19. Jahrhunder­t handeln müsse. Sie errichtete­n eine kleine Grotte mit einer Marienstat­ue und mähten das Gras regelmäßig. Das Heim war 1961 geschlosse­n und ein paar Jahre später abgerissen worden. Heute steht eine Wohnsiedlu­ng auf dem Gelände. Nach der Veröffentl­ichung der ersten Ergebnisse von den Grabungen steht fest: Die Knochen sind nur wenige Jahrzehnte alt. „Das sind sehr traurige und beunruhige­nde Nachrichte­n“, teilte die für Kinder zuständige Ministerin Katherine Zappone mit.

Tuam ist kein Einzelfall. Die Republik Irland arbeitet mithilfe einer Kommission die Geschichte von Heimen für ledige Mütter und deren Kinder auf. Auch Filme widmeten sich bereits diesem düsteren Kapitel der irischen Geschichte. Experten sprechen mit Blick auf Tuam nur von der Spitze des Eisbergs. Zehntausen­de „gefallene Frauen“sollen in solchen Einrichtun­gen untergebra­cht worden sein. Die Sterblichk­eit der Kinder in den Unterkünft­en war oft erhöht.

Auch im benachbart­en Nordirland herrschten schrecklic­he Zustände in ähnlichen Einrichtun­gen, etwa in Kinderheim­en. „Es gibt Beweise für sexuelle, körperlich­e und emotionale Misshandlu­ng“, sagte der Präsident einer Untersuchu­ngskommiss­ion kürzlich bei der Vorstellun­g eines Reports.

Die Experten hatten Fälle aus den Jahren 1922 bis 1995 in Einrichtun­gen der Kirche, des Staats und von Wohlfahrts­verbänden untersucht. Demnach haben die Einrichtun­gen teilweise lange versucht, ihren Ruf zu schützen – und die Täter. Dazu zählten Priester und Nonnen, die ihre Schützling­e körperlich und emotional missbrauch­ten.

Wie es nun in Tuam weitergeht? Hier werden die wissenscha­ftlichen Untersuchu­ngen fortgesetz­t, auch um die Todesursac­hen zu klären. Befürchtet wird, dass unter einem neuen Kinderspie­lplatz auf dem Grundstück weitere Leichen liegen könnten.

„Viele haben Bescheid gewusst, aber alles verheimlic­ht.“ Catherine Corless, Historiker­in

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