„Europa will uns offenbar nicht“
Im Kosovo, dem jüngsten Staat Europas, wächst die Missstimmung über Brüssel: Die Abschaffung der Visumpflicht liegt in weiter Ferne.
Do you speak English? Das ist im Kosovo einfach die falsche Frage. „Wie?“, fragt der Taxifahrer am Flughafen in Priština: „Kannst du nicht Deutsch?“Schon Volksschulkinder lernen die Sprache von Trickfilmen im Fernsehen. Bezahlt wird hier in Euro, vor dem Jahr 2002 war die D-Mark die Währung. Kein Dorfplatz im Land, wo sich nicht innerhalb von Minuten jemand fände, der sich akzentfrei auf Deutsch verständigen könnte.
Der Kosovo ist wahrscheinlich das europäischste Land Europas. Von je drei Bürgern des jüngsten Staates in Europa lebt einer im Ausland. Auch die beiden anderen haben laut der Statistik – als Gastarbeiter oder als Flüchtling – schon eine Zeit dort zugebracht. Etwas mehr als 80 Prozent davon im deutschsprachigen Raum. Der Präsident hat in der Schweiz, der Außenminister in Österreich studiert.
Aber ihre Verwandten besuchen oder nur die Stätten ihrer Jugend anschauen dürfen nur die wenigsten. Als einzige Europäer westlich von Weißrussland brauchen Bürger des Kosovos ein Visum – das sie nur nach umständlicher Prozedur und oft auch überhaupt nicht bekommen und deshalb auch nur noch selten beantragen.
Anfangs stand die Skepsis der westlichen EU-Staaten der Reisefreiheit im Wege. Jetzt ist es auch der Trotz der Kosovaren. Beide Emotionen verstärken einander – und Europa und sein balkanisches Protektorat rücken immer weiter auseinander.
Im Dezember 2016 gaben Europäischer Rat und Europaparlament sogar Georgien und der Ukraine prinzipiell grünes Licht für visumfreies Reisen in die Schengenstaaten. So könnten demnächst zwar 46 Millionen Ukrainer ebenso frei nach Berlin oder Paris reisen wie die viereinhalb Millionen Bewohner des 3000 Kilometer entfernten Kaukasusstaates. Nicht aber die gerade noch 1,7 Millionen Kosovaren.
Selbst schuld, heißt es zu dem Missverhältnis in Brüssel: Der Kosovo erfüllt die Bedingungen nicht. Gleich, ob wir den Anforderungen nun gehorchen oder nicht, antwortet eine parteiübergreifende Koalition im Kosovo: „Europa will uns nicht“, sagt Ilir Deda, Kopf der Fronde im Parlament.
Nach dem offiziellen Brüsseler Abfolgeplan sind tatsächlich die Kosovaren am Zug. Zunächst muss das Parlament in Priština mit Zweidrittelmehrheit ein Grenzabkommen mit dem Nachbarstaat Montenegro ratifizieren. „Nur diese eine Bedingung steht noch aus“, sagt Staatspräsident Hashim Thaçi im SN-Gespräch. Das hätten ihm bei seinem jüngsten Besuch in Brüssel alle Gesprächspartner versichert, darunter Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. „Unsere Abgeordneten haben es in der Hand“, sagt Thaçi. „Sie entscheiden zwi- schen Visumfreiheit und Isolation.“Trotz der Verlockung liegt die Zweidrittelmehrheit in weiter Ferne. Nicht einmal die Regierungsfraktionen stehen hinter dem Abkommen mit Montenegro. Die Opposition nützt die Gelegenheit, die im Grunde unerhebliche Grenzregulierung zu einer Frage der nationalen Ehre zu machen. Die Regierung wolle 8000 Hektar kosovarischen Boden abgeben, behauptet Oppositionsführer Visar Ymeri. Nach der Darstellung der Regierung dagegen verliert das Land beim Tausch einiger Wiesen im Nordwesten des Landes nicht mehr, als es gewinnt. Hinter der Ablehnung verbirgt sich ein tiefes Misstrauen sowohl gegen die eigene Regierung als auch gegen Brüssel. Hier wie da offenbar ein berechtigtes.
So klar, wie Präsident Thaçi die Visumentscheidung darstellt, ist sie nicht. Ulrike Lunacek, Vizepräsidentin des Europaparlaments und Berichterstatterin für den Kosovo, zitiert noch eine zweite Bedingung für die Reisefreiheit: Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen. Ob der Kosovo dabei genug getan hat, kann in Brüssel niemand sagen. Beim Kampf gegen Korruption habe es Fortschritte gegeben, sagt Lunacek. Mit Anklagen gegen Minister und Bürgermeister habe das Land die Bedingung erfüllt, versichert Thaçi. Aber die Anforderung ist so schwammig, dass sich jederzeit neue Bedingungen daraus ableiten lassen.
Dabei setzt Lunacek sich dafür ein, dass die Kosovaren endlich frei reisen können. Jetzt, da Georgier und Ukrainer den Visumzwang loswerden können, sei das die „beste Chance“– und die sei fast schon vertan. Dabei ist das EU-Parlament von allen europäischen Institutionen dem Kosovo noch am freundlichsten gesinnt. Völlig unklar ist, wie der Ministerrat entscheiden würde. Die Haltung gegenüber dem Kosovo sei „in manchen Mitgliedsstaaten noch immer sehr vorurteilsbeladen“, sagt die Grüne Lunacek.
Auf der Bremse stehen vor allem Frankreich und Belgien. Aber auch in Berlin herrscht Skepsis. Hintergrund ist die Furcht vor Migration und vor Terror – nach einer panikartigen Ausreisewelle von Kosovaren im Winter 2015 und mehr als 300 Islamisten, die von hier in den „Heiligen Krieg“nach Syrien zogen.
Dabei macht die Abschottung beide Gefahren einstweilen schlimmer. Vor zwei Jahren mühte sich die Regierung in Berlin, den flüchtenden Kosovaren zu erklären, dass sie in Deutschland kein Paradies vorfänden. Ohne Visumzwang hätten die Emigrationswilligen sich selbst ein Bild von ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt machen können.
Inzwischen, sagt Ulrike Lunacek, reisten laut ihrem Wissensstand auch keine Dschihadisten aus dem Kosovo mehr in den Nahen Osten. Zu einem Thema wurden die Radikalislamisten überhaupt erst, als die Europa-Hoffnungen der Kosovaren nach und nach verdampften.
Noch nach 9/11 überschlugen sich Regierung und Volk geradezu in ihren Loyalitätsbekundungen zu den USA. Der „Bulevardi Bil Klinton“in Priština, und ein riesiges Graffito des Geehrten legen noch heute Zeugnis davon ab. Große Mehrheiten stehen gegen Religionsunterricht und für ein Kopftuchverbot in Schulen – mit Unterstützung sämtlicher Parlamentsparteien. Trotzdem gewinnt der Islamismus in manchen Kleinstädten rasch an Boden. Dass Europa „uns nicht will“, ist sein stärkstes Argument.