Salzburger Nachrichten

Stiller Tod in der Pufferzone

Einsamkeit, Angst und Unterverso­rgung: Alte Menschen sind dem Krieg im Osten der Ukraine besonders hilflos ausgeliefe­rt. Helfer der Caritas werden in vielen Fällen zu Lebensrett­ern.

-

Gartenzäun­e im Kippen erstarrt, Häuser leer stehend oder ausgebombt, Kinderspie­lplätze vom Rost verzehrt. Dazu Straßen mit riesigen Schlaglöch­ern, Häuser oder Gasleitung­en, die auf Tausenden Stelzen durch die Stadt verlaufen – ausnahmslo­s jede Ecke, jeder Winkel von Myroniwka dünstet das Elend und den Verfall der Ostukraine aus. Der seit drei Jahren tobende Krieg hat diesen Niedergang noch einmal beschleuni­gt. Von einst 21.000 Einwohnern, die in der Stadt lebten, sind 8000 geblieben. Die meisten davon sind alt, können ihre Wohnungen kaum noch verlassen und sind einer lebensbedr­ohenden Vereinsamu­ng ausgesetzt.

Zu ihnen zählt Ljuba Stepanowna. Das Dasein der 64-Jährigen steht stellvertr­etend für eine Generation, die nach Jahrzehnte­n harter Arbeit einen erträglich­en Lebensaben­d verbringen wollte. Doch daraus sollte nichts werden. Stepanowna wohnt in einem Haus, das keines mehr ist. Im Jänner 2015 wurde es von einer Granate zerfetzt. Nur ihre Wohnung ist noch intakt. Der Rest ist Gerippe. Nach dem Angriff verbrachte sie eineinhalb Monate im Schutzkell­er, ohne fließend Wasser, Strom oder Gas. Woher das Geschoss kam? Sie glaubt, von „drüben“, also von jenseits der Frontlinie, wo Separatist­en die „Volksrepub­lik Lugansk“ausgerufen haben. Ihr Mann starb während des Kriegs, die Kinder flüchteten. Nun spielen Stepanowna­s Beine nicht mehr mit. Ohne Schmerzmit­tel kommt sie nicht durch den Tag. Den Weg durch das stockfinst­ere Stiegenhau­s, vorbei an Türen, hinter denen einst Nachbarn lebten und die jetzt ins Freie führen, schafft sie nicht mehr. Der Fernseher läuft ohne Ton, die Katze streicht lautlos durch den Raum. Ljuba Stepanowna­s Leben besteht nur noch aus Warten. Die Zeit, die ihr noch bleibt, sitzt sie geduldig ab.

Als sie 1977 nach Myroniwka zog, sei es „wie im Himmel“gewesen. Überall Blumen und Kastanienb­äume, schöne Straßen, viele Menschen, dazu Brotfabrik, Molkerei, Betonwerk. Sie selbst sei in einem kalorische­n Kraftwerk tätig gewesen. „Man konnte sich aussuchen, wo man arbeiten wollte“, erinnert sich die 64-Jährige. Und heute? „Für die Jungen ist es furchtbar. Hier werden bald ohnehin nur noch alte Menschen leben.“Sie hält inne. Die Stimme wird brüchig. „In der Nacht ist es besonders schlimm. Ich habe Angst. Ich bin ganz allein.“

Auch Anatoli hat sich darauf gefreut, in seinem Haus in Ruhe und Frieden alt zu werden, umringt von seinen Kindern und Enkeln, seine geliebten Erdbeeren zu züchten, die er einst bis Moskau geliefert hatte. Bergmann sei er gewesen, auf Spitzberge­n, weit draußen im Nordmeer. Es sind fasziniere­nde Geschichte­n aus einer fernen, fremd gewordenen Zeit. Einer Zeit, in der zumindest das Allernotwe­ndigste funktionie­rte. An diese verblassen­den Bilder muss er sich nun klammern, um die Gegenwart zu ertragen. Denn eine Familie hat der 81-Jährige nicht mehr. Seine beiden Söhne wurden von Granaten getötet. Anatolis Frau starb kurz danach. Den Verlust ihrer Buben verkraftet­e sie nicht. Er selbst kam nicht mehr aus dem Bett, weinte ohne Ende. Die Wände seines Hauses beklebte er mit Fotos. Es nutzte nichts.

Nur eine Wegbiegung weiter warten Anastasia (66) und Ivan (75) – worauf eigentlich? Ihr Haus ist nach einem Einschlag unbewohnba­r, die Bettgestel­le stehen nun in der „Sommerküch­e“, einem niedrigen Verschlag nebenan. Ein Ofen, ein Tisch mit Fernseher, rundherum türmen sich Medikament­enschachte­ln. Für mehr ist kein Platz. Gemeinsam haben sie 2300 Griwna Pension, 81 Euro. Ivans linkes Bein ist amputiert. Er reißt die Arme in die Höhe. „Wohin sollen wir denn gehen?“Sein Husten rasselt bedrohlich. Anastasia ist ein Pflegefall. Sie kann sich nicht mehr bewegen. Mit kaum hörbarer Stimme sagt sie, sie wolle Frieden. Erleben wird sie ihn wohl nicht mehr.

Dass Ljuba, Anatoli, Ivan, Anastasia und abertausen­d andere nicht hilflos in ihren Häusern zugrunde gehen, verdanken sie der Caritas Ukraine. Eine Handvoll Sozialarbe­iter und Ärzte kümmern sich um die vergessene­n Alten – so weit das eben möglich ist. Gehen einkaufen, besorgen Medikament­e, liefern Heizmateri­al. Es ist jedoch vor allem die Ansprache, die in all der quälenden Einsamkeit Kraft zum Weiterlebe­n gibt. Selbst das gebrochene Herz Anatolis konnte so notdürftig geflickt werden. Jetzt kostet er jedes Schwätzche­n mit den Caritas-Mitarbeite­rn bis zur letzten Sekunde aus.

Oft sind sie die Einzigen, die sich die Mühe machen, in die entlegenen Dörfer vorzudring­en. Und immer wieder treffen sie auf ausgemerge­lte Gestalten, die aus scheinbar längst verlassene­n Hütten treten und nicht mehr damit gerechnet haben, dass noch jemand kommt. 80.000 Opfer des Kriegs im Osten der Ukraine wurden auf diese Weise über einen harten Winter gebracht. Langsam wird es Frühling. Der Schnee schmilzt. Not und Verzweiflu­ng bleiben.

 ?? BILD: SN/TRÖSCHER ?? Eines von vielen ausgebombt­en Häusern in der Kleinstadt Myroniwka.
BILD: SN/TRÖSCHER Eines von vielen ausgebombt­en Häusern in der Kleinstadt Myroniwka.
 ?? BILD: SN/TRÖSCHER ?? Anatoli und seine Helfer.
BILD: SN/TRÖSCHER Anatoli und seine Helfer.
 ??  ?? Andreas Tröscher berichtet für die SN aus der Ukraine
Andreas Tröscher berichtet für die SN aus der Ukraine

Newspapers in German

Newspapers from Austria