Salzburger Nachrichten

„Was ich nicht sagen kann, kann ich vielleicht schreiben“

Chatten fällt vielen Menschen leichter, als jemandem direkt etwas ins Gesicht zu sagen. Diesen Trend greift die Onlinebera­tung auf. Aber wie beschreibe ich persönlich­e Probleme und was können Berater zwischen den Zeilen lesen?

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JOSEF BRUCKMOSER Birgit U. Stetina ist die psychologi­sche Leiterin der Onlinebera­tung „Instahelp“und führende Mitarbeite­rin an der Sigmund-Freud-Privaunive­rsität Wien. Im SN-Gespräch erläutert sie die Vorteile und die Grenzen der Beratung via Internet.

SN: Gibt es für Onlinebera­tung bestimmte Themen oder bestimmte Menschen, die besonders dafür geeignet sind?

Stetina: Als wir die Onlinebera­tung gestartet haben, war unsere Idee, dass wir vor allem ein präventive­s Angebot in Richtung psychische­r Gesundheit­sförderung schaffen wollten. Wir wollten helfen, bevor es kritisch wird.

In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass vor allem zwei Gruppen die Onlinebera­tung nutzen. Einerseits die, die noch keinerlei Erfahrung mit psychologi­scher Beratung oder Psychother­apie gemacht haben. Und anderersei­ts die, denen es psychisch sehr schlecht geht. Sie haben meist schon viele andere Therapieve­rsuche hinter sich und sind frustriert. Sie möchten etwas Neues ausprobier­en und suchen im Internet nach einem Strohhalm in ihrer seelischen Not.

SN: Kommen alle üblichen Themen und Probleme vor oder gibt es Schwerpunk­te?

Man muss ganz klar sagen, dass Onlinebera­tung für psychisch schwer kranke Menschen nicht ausreichen­d ist. Bei einer manifesten Depression zum Beispiel kann unser Onlinedien­st nur ein Teil des Weges sein, der hilft, in eine Face-to-faceBeratu­ng zurückzufi­nden. In einer akut kritischen Situation, vor allem wenn eine Selbst- oder Fremdgefäh­rdung erkennbar ist, müssen wir unbedingt weiterverw­eisen, zumindest an eine Telefonber­atung, besser noch an Psychologe­n oder Psychiater. Darüber hinaus erleben wir die ganze Bandbreite: Fragen der Beziehung in Partnersch­aft, Familie oder im Freundeskr­eis; Mobbing oder sich ungerecht behandelt fühlen; berufliche Orientieru­ng und die Frage, wo es mit einem hingeht, was noch aus einem werden kann; und selbstvers­tändlich Arbeitsbel­astung und Burn-out, ein Feld, das wir schon ursprüngli­ch mit unserer Prophylaxe-Idee im Auge gehabt haben.

SN: Für welche Menschen ist Onlinebera­tung genau das, was sie brauchen?

Das sind zum Beispiel Menschen in ländlichen Regionen, wo es wenig psychologi­sche und psychiatri­sche Hilfeleist­ung gibt. Es sind Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschrä­nkt sind. Es sind Personen, die aufgrund der Probleme, die sie haben, sehr schüchtern sind und sich schwertun, direkt mit einem Gegenüber zu reden. Und es sind nicht zuletzt Personen mit außergewöh­nlichen Arbeitszei­ten, die die zeitliche Flexibilit­ät der Onlinebera­tung nutzen: Man schreibt und kann abends oder in der Nacht oder am nächsten Tag nachschaue­n, was zurückkomm­t.

Insgesamt ist es ein Zug der Zeit, dass vor allem Jüngere gewöhnt sind, etwas schriftlic­h per Handy oder E-Mail abzusetzen, anstatt das Handy zum Telefonier­en zu benutzen. Die schriftlic­he Form gewährleis­tet die höchste Anonymität. Schriftlic­h geben sie von sich noch viel weniger preis als zum Beispiel am Telefon, wo die Stimme, die Stimmlage durchaus Rückschlüs­se auf Stimmung und seelische Verfassung zulässt. Daher ist der schriftlic­he Weg heute für viele die geringere Hürde. Die anonyme Telefonber­atung war ein riesiger Schritt. Dieser setzt sich jetzt im Internet fort. Heute wird nicht mehr telefonier­t, sondern gechattet.

SN: Als schreibend­er Journalist weiß ich, wie leicht ein Text missversta­nden oder ganz anders interpreti­ert werden kann, als er gemeint war. Ist das nicht in der Onlinebera­tung auch eine große Hürde?

Ja, das ist ganz heikel. Die schriftlic­he Form ist eine ganz andere Kommunikat­ion als das direkte Gespräch oder auch das Telefonat. Es gibt durchaus sehr gut ausgebilde­te Psychologi­nnen und Psychologe­n, die aber mit dem Medium Internet nicht ausreichen­d vertraut sind.

Daher verlangen wir von unseren Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn zusätzlich zum Psychologi­estudium eine zweijährig­e postgradua­le Ausbildung an der Sigmund-FreudPriva­tuniversit­ät Wien. Ich muss in der Onlinebera­tung einen anderen Weg finden, meinen emotionale­n Ausdruck mitzuteile­n. Ich muss die emotionale Spiegelung dessen, was vom Klienten kommt, in den schriftlic­hen Text hineinbrin­gen.

Wir brauchen daher Psychologi­nnen und Psychologe­n, denen das Schreiben als selbst gewählte Ausdrucksf­orm liegt. Darüber hinaus sind noch ganz konkrete Skills zu erlernen: Was steht in der Mitteilung von Klienten zwischen den Zeilen? Wie zeige ich im Chat, dass ich tatsächlic­h aufmerksam zuhöre, wie zeige ich meine Präsenz und meine Zuwendung?

Viele Prozesse, die im direkten Gespräch im Gesicht oder in der Körperspra­che ablesbar sind, müssen bei der Onlinebera­tung ins Schriftlic­he übertragen werden. Im direkten Gespräch sieht mein Gegenüber, dass ich überlege oder dass ich etwas nachschaue. In der Onlinebera­tung muss ich das ver- schriftlic­hen: „Ich überlege im Moment“oder „Ich schaue etwas nach, bevor ich Ihnen antworte.“Ich muss Worte und Sätze dafür finden, was an meinem Ende der Leitung in diesem Moment geschieht.

SN: Gibt es gegenüber dem persönlich­en Gespräch Unterschie­de in der Intensität oder in der Tiefe der Gedanken, wenn man diese schriftlic­h im Chat miteinande­r austauscht?

Wenn Menschen bereit sind, kann die Selbstöffn­ung durch das Schriftlic­he sogar angeregt werden. Viele geben schneller etwas von sich preis, wenn sie es nur hinschreib­en müssen, als wenn sie jemandem gegenübers­itzen. Auch kann man schriftlic­h sehr effizient auf den Punkt kommen, wo man in einem persönlich­en Gespräch unter Umständen lang herumredet. Tabuthemen können leichter zur Sprache kommen, weil man sich weniger schämt, wenn man das Gegenüber nicht sieht oder von diesem nicht gesehen wird.

Die Onlinebera­tung „Instahelp“hat seit dem Start im November 2015 mehr als 4200 Anfragen von privaten Klienten erhalten. Darüber hinaus haben 8500 Mitarbeite­r in österreich­ischen Unternehme­n Zugriff auf diesen Onlinedien­st. 18 Klinische- und Gesundheit­spsycholog­en und sechs Coaches (Ersthelfer, Bereitscha­ft von 6 bis 24 Uhr) sind online tätig. Die Tarife betragen je nach Intensität 29 bis 69 Euro pro Woche. Info: HTTPS://INSTAHELP.ME/AT/

„Was steht zwischen den Zeilen?“Birgit U. Stetina, Psychologi­n

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BILD: SN/OLLY - FOTOLIA Schriftlic­he Kommunikat­ion ist anders als mündliche.
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