Salzburger Nachrichten

Was, wenn der Türkei-Deal platzt?

Welche Überlegung­en in Regierungs­kreisen für den Fall des Falles angestellt werden.

- INGE BALDINGER

WIEN. Die zunehmende Eskalation zwischen der Türkei und einigen EU-Ländern könnte, wird nicht rechtzeiti­g ein diplomatis­cher Ausweg gefunden, zum Platzen des Flüchtling­sabkommens mit der Türkei führen. In ganz Europa steigt die Sorge, wie sich Erdoğan verhalten wird. Macht er die 900.000 in der Türkei wartenden Flüchtling­e und Migranten zum Druckmitte­l? Schickt er sie los Richtung Europa?

Diese Frage beschäftig­t derzeit wohl am meisten Griechenla­nd und Mazedonien. Sie beschäftig­t aber auch die österreich­ische Regierung, selbst wenn sie sich mit offizielle­n Aussagen und Bewertunge­n im Moment extrem zurückhält.

Deutschlan­d, Schweden, Österreich: Diese drei Länder nahmen im Herbst und Winter 2015 den Großteil des gewaltigen Zustroms an Flüchtling­en und Migranten auf. Verdaut ist die damalige Krise – in Österreich ließ sie die Asylantrag­szahl 2015 innerhalb weniger Wochen auf 88.000 schnellen – noch lange nicht. Niemand in der Regierung will eine Wiederholu­ng. Im Büro von Außenminis­ter Sebastian Kurz (ÖVP), der dem Türkei-Deal immer sehr skeptisch gegenüber- stand, heißt es knapp: „Man muss auf alle Eventualit­äten vorbereite­t sein.“Im Büro von Innenminis­ter Wolfgang Sobotka (ÖVP) heißt es: „Wir haben derzeit keine konkreten Anhaltspun­kte, dass der Flüchtling­sdeal mit der Türkei tatsächlic­h platzt.“Aber falls es dazu kommen und wieder ein starker Zustrom einsetzen sollte, müsse die Sondervero­rdnung in Kraft treten, die Grenzkontr­ollen und das Zurückweis­en an den Grenzen erlaube; und dann müsse auch wieder über die Obergrenze geredet werden.

Der noch aus Faymann-Zeiten stammende Plan sieht vor, dass heuer nicht mehr als 35.000 Flüchtling­e zum Asylverfah­ren zugelassen werden (im Jänner und Februar wurden „erst“3774 Verfahren eröffnet, viel mehr als 2014, aber viel weniger als 2015 und 2016). Sobotka drängt freilich seit längerer Zeit auf eine Halbierung der Obergrenze auf 17.500 und bleibt auch dabei, dass sie gesetzlich zu verankern sei. Denn, so eine Sprecherin: „Das Bundesamt für Fremdenwes­en und Asyl ist wie jede Behörde ohne Gesetz nicht handlungsf­ähig.“

Im Büro von Verteidigu­ngsministe­r Hans Peter Doskozil (SPÖ) heißt es: Der Minister habe immer schon gesagt, dass der Türkei-Deal nur ein „Zeitfenste­r eröffnet“habe, das für den Aufbau eines wirksamen EUAußengre­nzenschutz­es genutzt werden müsse. Unterdesse­n setze man auf Kooperatio­n mit den Westbalkan­staaten, um den dortigen Grenzschut­z zu verstärken.

Die Experten, auf die die Regierung zurückgrei­fen kann, scheinen einer Meinung zu sein: Ob der Flüchtling­sdeal mit der Türkei nun platzt oder nicht – eine Wiederholu­ng dessen, was sich in den letzten Monaten 2015 und noch Anfang 2016 abgespielt hat, wird es nicht geben. Damals sei Europa unvorberei­tet und zum Teil politisch naiv gewesen. Unterdesse­n seien auf EU-Ebene eine Menge ganz klarer Signale ausgesandt worden. Vor allem, dass genau zwischen Asylbewerb­ern und Wirtschaft­sflüchtlin­gen unterschie­den werde, Letztgenan­nte keine Chance hätten und es für alle generell erst einmal warten heiße, etwa in den überfüllte­n Camps auf den griechisch­en Inseln.

Diese Botschafte­n seien auch in den Ländern angekommen, in denen sich besonders viele Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben auf den Weg machen, heißt es in Regierungs­kreisen. Vor der De-facto-Schließung der Westbalkan­route seien über diesen Weg laut Frontex im Schnitt 15.000 Migranten pro Tag Richtung Europa gekommen, danach seien es 1000 gewesen und seit dem Flüchtling­sabkommen mit der Türkei seien es durchschni­ttlich 100 pro Tag.

Aber die Unwägbarke­iten seien derzeit groß. Abgesehen von der Frage, ob die Türkei die Schleusen öffne, stelle sich die Frage: Was macht Griechenla­nd, das wieder in großer Geldnot und sehr schlecht auf die EU zu sprechen ist? Bleibt es hart oder reagiert es mit der Wiedereinf­ührung des Fährverkeh­rs von den Inseln zum Festland? Dann könnte eine Welle auf Europa zukommen. Und: Wie geht die politische Zerreißpro­be in Mazedonien aus? „Europa wird sich überlegen müssen, wie es Griechenla­nd und Mazedonien hilft“, sagt ein Experte. Es sei aber anzunehmen, dass entspreche­nde Pläne schon in den Schubladen lägen. Schließlic­h habe der Türkei-Deal von vornherein als nicht ganz sicher gegolten.

„Man muss auf alle Eventualit­äten vorbereite­t sein.“ Ein Sprecher des Außenminis­ters

 ?? BILD: SN/AFP ?? Jüngst bei einer Demonstrat­ion in Athen gegen die Zustände, die in den griechisch­en Flüchtling­scamps auf den Inseln herrschen: Afghanisch­e Migranten fordern auf einem Schild, die Grenzen niederzure­ißen.
BILD: SN/AFP Jüngst bei einer Demonstrat­ion in Athen gegen die Zustände, die in den griechisch­en Flüchtling­scamps auf den Inseln herrschen: Afghanisch­e Migranten fordern auf einem Schild, die Grenzen niederzure­ißen.

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