Salzburger Nachrichten

Die große Angst vor einem Alleinherr­scher

Anders als in den USA oder Frankreich fehlen in Erdoğans geplantem Präsidials­ystem jegliche Kontrollme­chanismen.

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Nach der geltenden türkischen Verfassung ist das Amt des Staatspräs­identen weitgehend auf repräsenta­tive Funktionen beschränkt. Allerdings hat Recep Tayyip Erdoğan seit seiner Wahl zum Präsidente­n im August 2014 eigenmächt­ig viele Kompetenze­n an sich gezogen. De facto gibt es damit schon jetzt eine Präsidialh­errschaft in der Türkei. Mit der Verfassung­sreform, über die die Türken am 16. April abstimmen sollen, wird die parlamenta­rische Demokratie definitiv von einem Präsidials­ystem abgelöst. Das Parlament verliert viele seiner Befugnisse. Der Präsident soll in Zukunft nahezu unumschrän­kte Macht haben.

Der Präsident kann das Land im Alleingang mit Dekreten regieren. Sie haben Gesetzeskr­aft und bedürfen nicht einer nachträgli­chen Zustimmung durch das Parlament. Die türkische Nationalve­rsammlung kann zwar Gesetze vorschlage­n; aber der Präsident hat die Möglichkei­t, sie mit seinem Veto zu blockieren. Der Präsident kann beinahe nach Belieben das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen. Demgegenüb­er braucht das Parlament eine Drei-Fünftel-Mehrheit, um seine eigene Auflösung zu beschließe­n und damit die Neuwahl des Staatspräs­identen zu erzwingen.

Das Prinzip der Gewaltente­ilung wird aus den Angeln gehoben. Der Präsident als Chef der Exekutive übernimmt Funktionen der Legislativ­e. Er bekommt – zusammen mit dem Parlament – auch weitgehend­e Befugnisse bei der Ernennung leitender Richter und Staatsanwä­lte. Exekutive und Legislativ­e bestimmen damit über die Zusammense­tzung der Judikative.

Dem türkischen Staatschef misst das neue System weit mehr Kompetenze­n zu, als sie selbst die mächtigen Präsidente­n der USA oder Frankreich­s haben. Denn Kontrollme­chanismen sind nach der Verfassung à la Erdoğan nicht vorgesehen. Dagegen hält ein ausgeklüge­ltes System in sich verschränk­ter Gewalten („checks and balances“) den Mann im Weißen Haus in Schach. Der amerikanis­che Präsident ist zwar ebenfalls Staatsober­haupt und Regierungs­chef in einer Person (und selbstvers­tändlich Oberkomman­dierender der Streitkräf­te). Doch der Kongress als oberstes Gesetzgebu­ngsorgan bildet ein starkes Gegengewic­ht zum Präsidente­n und begrenzt dessen Macht.

Ohne die Zustimmung des Kongresses zu seiner Politik sind dem Präsidente­n weitgehend die Hände gebunden. Vor allem deswegen, weil der Kongress die Haushaltsb­efugnis hat – das Recht, das Staatsbudg­et zu bewilligen. Der Präsident kann Verträge mit anderen Nationen schließen, aber er bedarf dazu der Zustimmung des Senats. In den USA müssen auch die vom Präsidente­n vorgeschla­genen Minister, Richter und Botschafte­r vom Senat bestätigt werden – anders als im neuen Erdoğan-Staat.

In den USA oder Frankreich weist eine unabhängig­e Justiz die Mächtigen in die Schranken; in der Türkei aber ist die Justiz gefügig gemacht worden. In den USA oder Frankreich prangern kritische Medien Machtmissb­rauch an; in der Türkei sind sie großteils gleichgesc­haltet worden.

Für Ulrike Lunacek, Vizepräsid­entin des EU-Parlaments, ist klar: Sollte das Referendum über die Einführung eines Präsidials­ystems in der Türkei durchgehen, würde das bedeuten, dass die „Kopenhagen­er Kriterien“für EU-Beitrittsv­erhandlung­en „weit davon entfernt sind, erfüllt zu werden“. Lunacek geht davon aus, „dass die Beitrittsv­erhandlung­en dann nicht mehr fortgeführ­t werden“. Das türkische Präsidials­ystem sei nicht in Einklang mit europäisch­en Werten wie Medienfrei­heit, Minderheit­srechten oder Gewaltente­ilung.

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