Ein Einsamer flieht in die Vergangenheit
Der norwegische Sprachforscher Jakop Jacobsen sucht über verwandte Wörter und über Ahnen nach Begegnungen.
Seit dem Besteller „Sofies Welt“gilt der Norweger Jostein Gaarder als Spezialist für philosophische Fragen, die er leicht verständlich in Romanform aufbereitet. Sein jüngstes Buch hingegen ist ein Porträt eines eigenwilligen, wie liebenswerten, Außenseiters, der auf fantasievolle Weise seiner Einsamkeit zu entfliehen sucht – also mehr eine psychologische Studie denn ein philosophisches Elaborat.
Und während bisher in Jostein Gaarders Büchern Kinder eine Hauptrolle gespielt haben, ist der Protagonist von „Ein treuer Freund“ein in die Jahre gekommener Lehrer und Sprachforscher. Dieser Jakop Jacobsen ist – seit seiner Jugend in einem abgelegenen Tal in Norwegen – ein Einzelgänger. Abgesehen von einer flüchtigen und nicht glücklich verlaufenen Ehe hat er allein gelebt.
Doch so ganz stimmt das nicht. Denn es gibt immerhin einen Freund: Pelle. Doch mit Pelle hat es eine Bewandtnis: Er ist eine Art Alter Ego, eine zweite geistreiche, fröhliche Stimme, die sich oft vorlaut und penetrant bemerkbar macht. Jakops große Leidenschaft ist die Erforschung der indogermanischen Sprachen.
Diese weit verästelte Sprachfamilie ersetzt ihm in gewisser Weise die in Wirklichkeit nicht vorhandene Verwandtschaft: „Ich habe keine lebenden Kinder oder Enkelkinder und keine lebenden Geschwister oder Eltern, aber ich habe lebende Wörter in meinem Mund, und ich kann deutlich sehen, dass es von Verwandten dieser Wörter von Island bis Sri Lanka überall im indogermanischen Sprachraum nur so wimmelt. Ich gehöre also einer Sprachfamilie an, der ich mich stark verbunden fühle. Hier haben meine Wörter ihre Großeltern, Urgroßeltern und Ururgroßeltern, ihre Tanten und Onkel, ihre Vettern und Kusinen ersten, zweiten und dritten Grades.“Entsprechend verliert sich Jakop immer wieder in ausschweifende etymologische Exkurse.
Seine zweite Leidenschaft ist der Besuch von Begräbnissen, auf die er sich einschleicht. Die Informationen hierzu entnimmt er öffentli- chen Traueranzeigen und dem Internet. Am liebsten sind ihm große Trauerfamilien, als „Ersatz für mein fehlendes Familienleben“.
So bekommt er Zugang zur Sippe des verstorbenen Universitätsprofessors Erik Lundin, den er als Student flüchtig gekannt hat, aber zu dem er sich jetzt eine tiefergehende Beziehung zusammenfantasiert. Jakops kunstvoll beim Leichenschmaus ersponnene Lügengeschichten, wahre Münchhausiaden, sind der Clou dieses Romans, der in Form eines großen Geständnisses aufbereitet ist. Adressiert ist diese Beichte an Agnes, die Jakop bei einer Beerdigung kennenlernt und in die er sich verliebt. Sie durchschaut sein Lügenspiel, ist davon aber keinesfalls abgestoßen, sondern mehr und mehr fasziniert. Kann sie Jakop erlösen?
Jostein Gaarders Roman ist eine große Versuchsanordnung zum Thema Einsamkeit. In einem Spiel mit Identitäten, Aufspaltung der Persönlichkeit und Erfindung von Fantasiewelten schafft es Jakop, seine Isolation zu überwinden. Das Buch ist dabei wie ein Überraschungspaket, Schicht um Schicht wird die Wahrheit enthüllt, der Held wird kunstvoll entlarvt. Dabei bereitet es Vergnügen, sich von Jakops Märchen verführen zu lassen. Störend sind allenfalls ausufernde akademische Abschweifungen und die überladene Symbolik der Pelle-Figur.