Syriens traumatisierte Kinder
In dieser Woche jährt sich der Ausbruch des Syrien-Kriegs zum sechsten Mal. Andreas Papp, Nothilfedirektor bei SOS-Kinderdorf, über den Versuch, Kindheit inmitten des Kriegs zu schützen.
Die Geschichten, die Andreas Papp erzählt, machen den Zuhörer sprachlos. Sie handeln von Kindern, die tagelang neben ihren toten Eltern gelebt haben, ehe sie jemand fand und in Sicherheit brachte. Von Dörfern, in denen kein Haus mehr steht. Von Bildern, die Dreijährige zeichnen, auf denen Panzer und Tote zu sehen sind. – Die Geschichten handeln von Syrien.
Andreas Papp, Nothilfedirektor von SOS-Kinderdorf International, erzählt davon, während er beim Frühstück in einem Wiener Café sitzt. Vor wenigen Stunden erst ist er aus Aleppo zurückgekehrt, jener Stadt, in der seit sechs Jahren der syrische Bürgerkrieg tobt. „So eine Zerstörung wie im Osten von Aleppo habe ich noch nie gesehen. Stellen Sie sich halb Wien vor, aber kein einziges Haus steht mehr, kein einziges Fenster ist mehr ganz“, sagt Papp.
Und der 47-Jährige hat viel gesehen: Krisen in Somalia, dem Sudan, Libanon, dem Irak. Zwölf Jahre arbeitet er für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, seit zwei Jahren ist er nun für SOS-Kinderdorf tätig. Die österreichische Organisation hatte in Syrien vor Beginn des Kriegs zwei Kinderdörfer, eines in Damaskus und eines in Aleppo. „Jenes in Aleppo mussten wir wegen der heftigen Kämpfe im April 2016 schließen. Die Kinder wurden nach Damaskus gebracht“, erzählt SOSSprecher Viktor Trager. Kindern und Familien außerhalb des Dorfs hilft SOS-Kinderdorf mit der Versorgung mit Wasser, mit Essensverteilungen, medizinischer Beratung oder geschützten Plätzen, in denen Kinder trotz des Kriegs noch Kinder sein können.
Wie dringend diese Hilfe benötigt wird, verdeutlichen Papps Geschichten. „Gerade Kinder und Frauen kehren langsam nach Aleppo zurück. Sie brauchen Unterstützung. Die Kinder sind von den Erlebnissen des Kriegs schwer traumatisiert.“ Die angesprochenen geschützten Orte für Kinder nennen sich im Fachjargon „child friendly spaces“. Räume, in den Kinder zeichnen können, fernsehen, Fußball oder Theater spielen. Orte, an denen die Gräuel des Kriegs ferner und die eigene Kindheit zumindest für wenige Stunden etwas näher rückt. „Wir versuchen ihnen Normalität zu geben, Struktur, einen Weg aus dem Trauma zu finden. Es gibt Kinder, die seit drei Monaten nur weinen, oder solche, die einfach aufgehört haben zu sprechen“, erzählt Papp, stellt sein Kaffeehäferl neben sich und erzählt eine weitere Geschichte.
Sie handelt von Umram. Einem kleinen Mädchen, das eines Tages allein auf der Straße stand, weil seine Eltern in den Kämpfen gestorben waren. Seither lebt Umram in einer Einrichtung von SOS-Kinderdorf, in der versucht wird, Daten unbegleiteter Kinder zu sammeln, um sie irgendwann mit noch lebenden Familienangehörigen wiederzuvereinen. „Umram spricht sehr, sehr selten. Die Erlebnisse haben sie beinahe stumm gemacht“, erzählt Papp, der selbst zwei Söhne hat.
Wie er mit den Eindrücken umgeht, mit Geschichten wie jener von Umram oder solchen von schwer missbrauchten Mädchen und Buben? „Man lernt bei jedem Einsatz, wie man ein Stück besser damit zurechtkommt. Aber wenn ich nach Hause nach Österreich komme und meinen Dreijährigen im Bett schlafen sehe, dann weiß ich wieder, wie gut es mir geht“, sagt Papp. Pause. „Unsere Arbeit ist manchmal gefährlich, aber man weiß, wie es Kindern in Krisenoder Kriegsgebieten geht. Die eigene Arbeit kann dieses Leid zumindest ein wenig lindern.“
Auf die Frage, ob er an ein baldiges Ende des Syrien-Kriegs glaubt, folgt ein kurzes „man darf die Hoffnung auf Frieden nie aufgeben“und der Nachsatz: „Wenn man Kinder in Syrien fragt, was sie später einmal werden wollen, folgen drei Wünsche: Bäcker, Arzt oder Lehrer. Ohne eine hoch technische Bewertung der Situation vor Ort zu machen, sieht man daran, was gebraucht wird. Die Menschen brauchen Nahrung, medizinische Hilfe und einen Schulbetrieb, der ihnen Festigkeit gibt.“Diese schulische Struktur sei auch deswegen dringend erforderlich, um Kinder zu schützen – etwa vor Kinderarbeit.
Dann erzählt Papp noch eine Geschichte oder vielmehr das Ende der Geschichte von der Begegnung mit Umram, dem Mädchen, das kaum spricht. „Umram hat immer ein Stofftier bei sich, einen Löwen – für mich sah es zumindest aus wie ein Löwe. Es war völlig zerfetzt. Ich habe sie gefragt, ob ich mir den Löwen anschauen darf. Sie hat mich angesehen und gesprochen.“Umrams Worte waren: „Das ist kein Löwe, das ist ein Bär.“