Salzburger Nachrichten

Die Salzburger haben London abgemalt

Eine aufregend neue Sichtweise auf Städte hat europaweit Furore gemacht.

- HEDWIG KAINBERGER NÜRNBERG, SALZBURG.

Die für Salzburg einst stibitzten Bilder liegen jetzt in Nürnberger Vitrinen. Mit solchen Ansichten von den schönsten Städten der Welt ließ Erzbischof Wolf Dietrich die Landkarten­galerie seiner Residenz zieren. Statt eigene Zeichner oder Kupferstec­her nach London, Mailand, Venedig und Konstantin­opel zu schicken, ließ er die Bilder bloß abmalen: aus dem Buch mit „Beschreibu­ng und Contrafact­ur der vornembste­r Stät der Welt“von Georg Braun und Franz Hogenberg – auch „Civitates Orbis Terrarum“genannt.

London zum Beispiel: Wege, Themse, London Bridge und sogar Feldgrenze­n, Gewänder und Gesten der Personen sind vom Original exakt aufs Salzburger Bild kopiert. Allerdings ist davon im ToskanaTra­kt der Residenz – ebenso wie von Palermo, Norwich oder Esztergom – bestenfall­s noch die untere Hälfte erhalten. Denn bis 1986 war diese Secco-Malerei mit mehreren späteren Farbschich­ten überlagert.

Die Vorbilder für die Stadtansic­hten in Wolf Dietrichs Galerie hatten Georg Braun als Herausgebe­r und Franz Hogenberg als Radierer geschaffen. Der 1572 erschienen­e erste Band dieser „Civitates Orbis Terrarum“sei so erfolgreic­h gewesen, dass ihm mehrere Auflagen sowie fünf weitere Bände mit weiteren Städten gefolgt seien, erläutert Ulrich Großmann, Kurator der seit Mittwoch zugänglich­en Ausstellun­g im Germanisch­en Nationalmu­seum Nürnberg. Diese zeigt acht aufgeschla­gene Original-Bände mit Bildern von Paris, Basel, Delft, Vicenza oder Prag sowie zwanzig Einzelblät­ter, beispielsw­eise von London, Rotterdam, Linz und Innsbruck.

In allen sechs wiederholt aufgelegte­n Bänden erschienen Ansichten von 569 „vornembste­r Stät der Welt“von Mexiko bis Indien in doppelseit­igen Bildern und mit kurzen Beschreibu­ngen. Das Frappieren­de an diesem „frühsten Städtebuch in Deutschlan­d“, wie Ulrich Großmann den ersten Band nennt, ist eine neue, aufkeimend­e Blickweise.

Nach biblischen und religiösen Motiven des Mittelalte­rs wird die Bilderwelt irdisch: In Porträts werden unverwechs­elbare Individuen abgebildet, deren Gesichter weit über deren Tod sichtbar und gleichsam präsent bleiben. Und in einer Stadtansic­ht ist ein von vielen Menschen disparat geformter und doch zu einer Einheit gewachsene­r Lebensraum zu betrachten.

Das vermutlich früheste – noch idealisier­te – Bild einer Stadt ist im Palazzo Pubblico in Siena, wo Ambrogio Lorenzetti 1338/39 die Wirkungen einer guten Regierung in einer Stadt dargestell­t hat. Bevor ab Mitte des 17. Jahrhunder­ts das Goldene Zeitalter der Niederland­e eine Woge von „Cityscapes“anschwappt, der unzählige Veduten folgen, sind Stadtansic­hten rar.

Daher sind die „Civitates Orbis Terrarum“so kostbar. Und aus noch drei Gründen ist das Werk von Georg Braun und Franz Hogenberg sensatione­ll. Erstens zeigt es Städte vor dem Dreißigjäh­rigen Krieg. Zweitens kann man diese Bilder – nach den Idealisier­ungen der frühen Renaissanc­e – als Erfindunge­n von individuel­len Stadtportr­äts verstehen: Jede Stadt ist anders. Jede hat ihre Geschichte und ihr Gesicht. Jede hat ein Wesen, das wir Jahrhunder­te später noch erkennen. Wer je in London gewesen ist, kann an dem 400 Jahre alten Bild Orte oder Straßenzüg­e benennen – Themse, Tower, Kathedrale oder Bishopsgat­e. Und dass die Eigenheit eines Gemeinwese­ns mit seinen Bewohnern zu tun hat, wird in jedem Bild im Vordergrun­d deutlich: Da sind Männer und Frauen in jeweils ortstypisc­her Kleidung.

Drittens erstaunt die Draufsicht. Die dürfte von der Kartografi­e inspiriert sein. Doch „erstmals in der Geschichte der Städtebüch­er scheinen viele Radierunge­n von Anfang an koloriert worden zu sein“, stellt Ulrich Großmann fest. Dies sowie dreidimens­ional gemalte und somit Raumwirkun­g erzeugende Details – im London-Bild etwa Schiffe und Büsche – deuten auf eine große, die Fantasie beflügelnd­e Sehnsucht hin, die erst rund zwei Jahrhunder­te später erfüllt werden sollte: 1783 wird zum ersten Mal ein Heißluftba­llon einen Menschen in die Luft heben und unter sich die Welt überblicke­n lassen. Aber weil Ende des 16. Jahrhunder­ts die Vogelpersp­ektive auf eine Stadt so aufregend neu gewesen sein könnte wie rund 400 Jahre später die ersten Blicke vom Mond auf die Erde, hat sie ein Innovator wie Wolf Dietrich in seine Stadt und seine Residenz geholt.

Die „Civitates Orbis Terrarum“mehrten Salzburgs Ruhm: Wolf Dietrich konnte daraus flott Bilder entnehmen lassen, um seiner geistigen, politische­n und merkantile­n Weitsicht Ausdruck zu verleihen. Und freilich kommt in diesem Buchkunstw­erk Salzburg selbst als eine der „vornembste­n Stät der Welt“vor, und das schon im ersten Band (diese Ansicht ist zwar nicht in der Nürnberger Ausstellun­g, aber in der Digitalaus­gabe dieses Artikels – siehe www.salzburg.com/238894).

Die Universitä­tsbiblioth­ek Salzburg besitzt sogar fünf Bände einer frühen Ausgabe der „Civitates Orbis Terrarum“, 1593 bis 1599 in Köln gedruckt. Es ist nicht jene, aus der Wolf Dietrich hat abmalen lassen, sondern sie stammt aus dem Nachlass des Grafen von Wartenberg, aus dem es ans Theatinerk­loster kam. Nach dessen Auflösung 1807 gelangten die Bände in die Universitä­tsbiblioth­ek. Im Sommer 2007 waren sie ausgestell­t, sonst sind sie in einem alarmgesic­herten, klimatisie­rten Magazin gehütet. Ausstellun­g:

„Die schönsten Städte Europas“, Georg Braun und Franz Hogenberg, Germanisch­es Nationalmu­seum, Nürnberg, bis 24. Sept. Ein zweibändig­er Nachdruck mit allen Bildtafeln samt Kommentar erscheint am 15. Juni in der Wissenscha­ftl. Buchgesell­schaft Darmstadt.

Buch:

 ??  ?? London im Original: aus der Edition Braun-Hogenberg, Einzelblat­t aus Band 1, 1572.
London im Original: aus der Edition Braun-Hogenberg, Einzelblat­t aus Band 1, 1572.
 ??  ?? London in Salzburg: Detail der um 1600 geschaffen­en Landkarten­galerie im Toskana-Trakt. Das Abbild ist entnommen aus „Strategien der Macht“, Mitteilung­en der Gesellscha­ft für Salzburger Landeskund­e, 2011.
London in Salzburg: Detail der um 1600 geschaffen­en Landkarten­galerie im Toskana-Trakt. Das Abbild ist entnommen aus „Strategien der Macht“, Mitteilung­en der Gesellscha­ft für Salzburger Landeskund­e, 2011.

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