Wie sozial ist die EU
Sozialunion – oder nicht. SPÖ und ÖVP haben unterschiedliche Vorstellungen.
WIEN, BRÜSSEL. Und wieder ein neues Streitthema in der Koalition: die Sozialunion. Beziehungsweise die Frage, ob die EU eine solche werden solle. Ja, sagt der Bundeskanzler. Erst vor wenigen Wochen betonte Christian Kern anlässlich eines Besuchs des deutschen Außenministers Sigmar Gabriel, dass sich Europa „in Richtung einer Sozialunion weiterentwickeln“solle.
Das Gegenteil sagte Außenminister Sebastian Kurz am Sonntag in der ORF-„Pressestunde“: Er werde sich „sehr bemühen“, die Entwicklung Europas zu einer Sozialunion zu „verhindern“. Diese wäre „eine Kampfansage an den Steuerzahler“.
Was hat es mit der Sozialunion auf sich? Nach den geltenden Verträgen hat die EU kaum Kompetenzen im Sozialbereich. Durch Grundregeln wie das Verbot der Diskriminierung anderer EU-Bürger wurden aber immer wieder Sozialleistungen bis zum Europäischen Gerichtshof durchgefochten. Außerdem wurden unter dem Titel Koordinierung der Sozialsysteme Regeln geschaffen, die klären sollen, welches Land wofür zuständig ist.
Solange Einkommen und Sozialleistungen in den EU-Ländern annähernd vergleichbar waren, war das kein großes Problem. Mit der Osterweiterung stieg aber der Druck, weil in Ländern wie Rumä- nien und Bulgarien die Familienbeihilfe aus reicheren Ländern wie Österreich oft mehr ausmacht als der dortige Durchschnittslohn. Mitte Dezember hat die EU-Kommission einige neue Vorschläge gemacht, wie Missbrauch verhindert werden soll. Unter anderem soll es Arbeitslosengeld für Neuankömmlinge erst geben, wenn sie drei Monate gearbeitet haben. Auch sollen EUStaaten Sozialleistungen verwehren können, wenn Neuankömmlinge nicht arbeiten oder zumindest aktiv nach einem Job suchen. Zugleich hat die Brüsseler Behörde allerdings vorgeschlagen, dass Grenzgänger künftig Arbeitslosengeld von dem Land bekommen sollen, in dem sie gearbeitet haben.
Die EU-Kommission will die Zusammenarbeit im Sozialbereich weiter vertiefen. Die Rede ist nicht von einer Sozialunion, sondern von einer „Säule sozialer Rechte“, die zusätzlich zu den bisher drei Säulen der EU (Binnenmarkt, Außen- und Sicherheitspolitik, Inneres und Justiz) gebaut werden soll.
Was hat Außenminister Kurz gegen die Sozialunion? Auch das schilderte er in der „Pressestunde“. Laut Kurz gibt es, will man die EU in eine Sozialunion weiterentwickeln, zwei Möglichkeiten. Die eine: Ganz Europa inklusive Österreich senkt sein Sozialniveau auf das Niveau der Nachzügler, etwa Rumänien oder Estland. „Ich glaube nicht, dass das die Idee ist“, fügte Kurz hinzu. Die andere Variante: Rumänien und Estland heben ihr Sozialsystem auf westeuropäisches Niveau. Das wäre erstens unerschwinglich. Und hätte zweitens den Effekt, dass ein rumänischer oder estnischer Arbeitsloser plötzlich ein höheres Einkommen hätte als ein dortiger Arbeitnehmer.
Diese Argumentation empört die SPÖ. „Wenn Herr Kurz sagt, er ist gegen eine Sozialunion, dann ist er ja für eine hohe Jugendarbeitslosigkeit“, stellte der stellvertretende SPÖ-Vorsitzende Hans Niessl fest.
Weit zurückhaltender reagierte die SPÖ auf den Vorschlag Kurz’, Sozialleistungen an EU-Ausländer erst auszuzahlen, wenn diese fünf Jahre im Land sind. Der Minister unterlegt seine Forderung mit den folgenden Fakten:
Nach derzeitiger Rechtslage kann nach nur einem Tag Arbeit der volle Anspruch auf Sozialhilfeleistungen entstehen; die Arbeitslosigkeit von in Österreich lebenden Osteuropäern ist seit 2011 (damals erhielten die neuen EU-Staaten mit Ausnahme von Rumänien und Bulgarien volle Arbeitnehmerfreizügigkeit) um mehr als 200 Prozent gestiegen; derzeit beträgt der Ausländeranteil unter den Arbeitslosen 30 Prozent.
In Wien sind 43 Prozent der Mindestsicherungsbezieher Ausländer. Wie hoch der Ausländeranteil unter den Mindestsicherungsbeziehern in ganz Österreich ist, ist nicht bekannt. Unter den Notstandshilfebeziehern sind 25 Prozent Ausländer (Stand 2015).
Führende Europarechtler sehen den Vorschlag des Ministers, EUAusländern erst nach fünf Jahren Anspruch auf Sozialleistungen zu geben, kritisch. Das ergab ein Rundruf der Austria Presse Agentur. Stefan Griller vom Salzburger Centre of European Union Studies wies darauf hin, dass zur Umsetzung des Kurz-Vorschlags „mit Sicherheit mindestens eine Änderung der EUVerordnung nötig“sei, „welche die Freizügigkeitsrechte konkretisiert“. Das Büro Kurz sieht freilich keinen Widerspruch im Vorschlag des Ministers und in diesen Expertenmeinungen. Dem Minister sei völlig klar, dass es hier keinen Alleingang Österreichs geben könne und eine Änderung der EU-Rechtsordnung notwendig sei.
Noch eine Konkretisierung scheint angebracht: Die von Kurz angedachte Einschränkung der Sozialleistungen bezieht sich nicht auf Arbeitslosengeld und Notstandshilfe. Diese seien ja Versicherungsleistungen, auf die jeder, der eingezahlt hat, Anspruch habe.