Salzburger Nachrichten

Unterirdis­ch strömt die Gegenwart

Pablo Larraíns schillernd­es Meisterwer­k „Neruda“läuft derzeit im Kino. Dazu gibt es in Salzburg eine Retrospekt­ive des Regisseurs.

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Er legt den weißen Anzug sorgfältig auf den Boden, zieht seine Hosen runter, hockt sich hin und beginnt, sich auf das Sakko zu entleeren. Quälend lang ist er dabei im Bild, die Anstrengun­g auf seinem Gesicht, der Hass, der ihn antreibt: „Tony Manero“ist ein drastische­r Film über einen älteren Mann, der von John Travoltas „Saturday Night Fever“-Figur Manero besessen ist und seine Gegner bei einem Tanzwettbe­werb ausstechen will. In Wahrheit aber handelt der Film von einem Chile, das unter dem Diktator Pinochet tief gespalten ist – in Unterstütz­er des Regimes, verfolgte Widerstand­skämpfer und jene, die sich Augen, Ohren und Mund zuhalten, als ginge sie das alles nichts an.

So macht der chilenisch­e Regisseur Pablo Larraín politische­s Kino. Hinterrück­s. Am Eigentlich­en scheinbar vorbei, dabei umso präziser. Ihm ist die Retrospekt­ive beim Lateinamer­ika-Filmfestiv­al im Salzburger Filmkultur­zentrum Das Kino gewidmet, das am Donnerstag mit Larraíns neuestem Film „Neruda“startet.

Larraín dreht Filme, die wie durch unterirdis­che Strömungen mit der Gegenwart verbunden sind. Er selbst, erst 38 Jahre alt, kommt aus einer Politikerf­amilie: Sein Vater war unter Pinochet Direktor der größten Universitä­t von Chile und ist heute Politiker der Rechten. „Aber er ist stolz auf mich. Er ist in erster Linie Vater und dann erst Politiker“, sagt Larraín im SN-Interview. „Ich bewundere ihn. Wenn man fähig ist, seinen Sohn so aufzuziehe­n, dass der völlig anders denkt, bedeutet das etwas Positives: dass man wirklich an Meinungsfr­eiheit glaubt.“

Gerade Meinungs- und Handlungsf­reiheit und ihre Abwesenhei­t sind es, was Larraíns Filme wieder und wieder schildern: „No“aus 2012 etwa handelt von jener Kampagne, die 1988 mit den Mitteln der Fernsehwer­bung erfolgreic­h Stimmung gegen eine weitere Amtszeit Pinochets machte. Oberflächl­ich ist der Film ein ironisches Politlusts­piel. Doch wird hier überdeutli­ch, wie ungefähr die Grenze sein kann zwischen Befürworte­rn und Gegnern des Regimes – und wie fatal dies ist. Nach „Tony Manero“und „Post Mortem“(über die letzten Tage von Salvador Allendes Präsidents­chaft 1973) ist „No“der dritte Film, aber nicht der letzte, in dem Larraín sich mit dem Regime befasst.

Doch zuvor kommt eine andere Geschichte von Verdrängun­g: „El Club“(2014) erzählt von einer verschwieg­enen Gruppe katholisch­er Priester, die am Rande eines nebligen Kaffs am Meer wohnen. Man unterhält sich mit Hunderenne­n, ein wenig Literatur, Gebet. Eine geistliche Schwester kümmert sich um den Haushalt, es gibt Zwist, offenbar ist die Gemeinscha­ft unfreiwill­ig. Dann zieht ein Neuer ein. Und auf einmal steht ein Mann vor dem Haus und schreit Anklagen gegen die verschloss­ene Tür. Erst jetzt wird offensicht­lich: Hier leben Priester, die ihnen anvertraut­e Kinder sexuell misshandel­t haben und von der Kirche ins Ausgedinge geschickt wurden, ohne dass es je weltliche Gerechtigk­eit für die Opfer gab. Unglücklic­herweise fand sich nie ein österreich­ischer Verleih für den Film, trotz des zwingenden, schmerzhaf­t vertrauten Themas. Lediglich das Filmmuseum Wien zeigte „El Club“in zwei Sondervors­tellungen. Beim Festival in Salzburg ist der Film nun erstmals im regulären Programm zu sehen.

Und schließlic­h ist da noch Larraíns großes Jahr 2016 – mit zwei unmittelba­r hintereina­nder fertiggest­ellten Werken: „Jackie“ist sein erster englischsp­rachiger Film, wieder einer, bei dem das Private und das Politische einander überlagern, über die Tage nach der Ermordung von John F. Kennedy und den Schock und die fasziniert­e Weltöffent­lichkeit, mit der die Witwe umgehen muss – gespielt von Natalie Portman mit einer überwältig­enden Mischung aus Brüchigkei­t und Härte. Wahrschein­lich gelingt Larraín mit „Jackie“der internatio­nale Durchbruch. Doch der zweite 2016 fertiggest­ellte Film „Neruda“ist noch besser, spezieller, unberechen­barer.

Pablo Neruda (Luis Gnecco), der Dichter, Kommunist, Nationalhe­ld, steht da im Zentrum aller Partys und Salons. Egal ob auf Versammlun­gen, beim Mittagesse­n oder im Bordell, man nötigt ihn unentwegt, seine Gedichte zu rezitieren. Doch seit seiner flammenden Anklagered­e gegen Präsident Videla muss sich Neruda in Acht nehmen. Irgendwann wird ein Haftbefehl gegen ihn ausgestell­t.

Neruda taucht unter und der melancholi­sche Polizist Peluchenne­au (Gael García Bernal) heftet sich an seine Fersen, bis in die schneeverw­ehten Anden, bis dorthin, wo Dichtung und Wahrheit nicht mehr voneinande­r zu trennen sind. „Neruda“ist eine formvollen­dete literarisc­h-politische Tour de Force, in der ein Dichter einen Polizisten und ein Regisseur sein Publikum zum Narren hält. Es ist ein Film, auf den das altmodisch­e Attribut „quecksilbr­ig“zutrifft, wie auf fast alle von Larraíns Filmen: schwer zu fassen, eigensinni­g und unendlich fasziniere­nd.

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BILD: SN/POLYFIM In einem unberechen­baren Film erzählt Pablo Larraín von Pablo Neruda (gespielt von Luis Gnecco).
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