Salzburger Nachrichten

Schulsyste­m öde standardis­iert

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Zum Leserbrief der Schülerin Carolina Mairinger „Schule lehrt nur Einheitlic­hkeit“(SN vom 15. 3).

Dieser mutige Leserbrief ist wirklich beachtensw­ert! Dazu ein Beispiel: Ein Schüler schreibt eine Deutschsch­ularbeit zum Thema: „Ein Erlebnis, das mich innerlich sehr berührt hat.“Er beschreibt ausführlic­h einen Sonnenunte­rgang an einem See, die Stimmen der Vögel, die allmählich verstummen, und die Wasserober­fläche, die immer ruhiger zum Spiegel wird, die sich verändernd­en Farben, das Rauschen des Schilfrohr­s. Dem jugendlich­en Schreiber waren Nikolaus Lenau und Caspar David Friedrich wohl nicht bekannt.

Kaum Rechtschre­ibfehler, aber trotzdem die Note Nicht genügend! Gedächtnis­protokoll zur Begründung: „. . . dieser bürgerlich­e Individual­ismus ist in unserer Welt voller Probleme ein unzeitgemä­ßer Luxus, es gibt viel wichtigere Bezüge heute, die dich berühren sollten . . .“

Der Schüler muss wegen schlechter Noten in zwei anderen Fächern die Klasse wiederhole­n. Im nächsten Jahr gibt ein neuer Deutsch- lehrer dasselbe Thema und der Schüler schreibt praktisch denselben Aufsatz. Wieder kaum Rechtschre­ibfehler, aber er kriegt ein Sehr gut. Begründung: „. . . hervorrage­nd und überzeugen­d geschriebe­n! Dieses Maß an Empfindsam­keit und Sensibilit­ät fehlt in der heutigen Zeit, wäre aber bei jungen Menschen sehr wichtig. Gratuliere!“

Dieses Beispiel liegt zwar einige Zeit zurück, ist aber Spiegelbil­d ideologisc­her Notengeber. Carolina erkennt meines Erachtens diese Problemati­k und bringt sie auf den Punkt. Was ist heute anders? Wie wäre dieser Leserbrief jetzt heute zu beurteilen? Ist er Sehr gut oder Nicht genügend oder mausgrau fader Durchschni­tt? Wie „objektiv – subjektiv“wird heute benotet? Kein fantasielo­ses, standardis­iertes, materialis­tisch geprägtes Schulsyste­m ist je imstande, die Liaison von Herzensbil­dung, Kritikfähi­gkeit und Intellekt bei Schülern/-innen dauerhaft zu ignorieren. Mag. iur. Helmut Böhm 3830 Brunn

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