Die EU setzt bei Brexit auf Schadensbegrenzung
Ratspräsident Tusk sieht die verbleibenden Mitglieder stärker geeint. Experten orten einen Schub für Sozialthemen.
BRÜSSEL. „So, da ist er.“Mit diesen Worten trat EU-Ratspräsident Donald Tusk gestern, Mittwoch, um 14 Uhr vor die Presse. Eine halbe Stunde davor hatte ihm der britische EUBotschafter Tim Barrow den sechsseitigen Austrittsantrag Großbritanniens aus der EU übergeben. „Es gibt keinen Grund, so zu tun, als wäre dies ein glücklicher Tag“, sagte Tusk. Immerhin hätten fast die Hälfte der britischen Wähler sich einen Verbleib in der EU gewünscht. „Wir vermissen euch jetzt schon. Danke und goodbye!“
Positiv am Brexit sei paradoxerweise, dass er die übrigen 27 Mitgliedsstaaten stärker zusammengeschweißt habe, sagte der Ratspräsident. Wie zum Beweis gab es am Mittwoch eine gemeinsame Stellungnahme der 27, in der sie den Austritt der Briten bedauern und zugleich betonen, man sei bereit „für das Verfahren, dem wir nun werden folgen müssen“.
Tusk will den 27 EU-Staaten am Freitag einen Entwurf für die Leitlinien zu den Verhandlungen vorlegen, die bei einem Sondergipfel am 29. April in Brüssel beschlossen werden sollen. Ziel sei es, die Kosten für die EU-Bürger, Unternehmen und Mitgliedsstaaten so gering wie möglich zu halten. Nach der Aktivierung von Artikel 50 des Lissabon-Vertrags bleiben zwei Jahre Zeit, um die Bedingungen des Brexit auszuhandeln. Aus Sicht der Experten der deutschen Bertelsmann Stiftung könnte der Abgang der Briten den geplanten Vorstoß bei Sozialthemen in der EU befördern. „Großbritannien war hier immer dagegen“, sagte der Chef der Stiftung, Aart Jan de Geus, am Mittwoch in Brüssel.
De Geus hält eine soziale Säule für unabdingbar in der EU, um sie wieder mit den Bürgern zu verbinden. Angesichts der prognostizierten Jobverluste, etwa durch die Digitalisierung der Arbeitswelt, sollten die Sozialsysteme rasch auf die neuen Anforderungen vorbereitet werden. Der frühere niederländische Arbeits- und Sozialminister erwartet aber keine europäischen Sozialleistungen, wie die – abgelehnte – Idee einer EU-Arbeitslosenversicherung. Eher werde es soziale Abfederungsmechanismen für Krisen geben oder Geld für Bildung. Die Bertelsmann Stiftung will bald Ideen dazu präsentieren.
Dass weitere Länder die EU verlassen könnten, glaubt man beim Thinktank nicht. Obwohl der Euroskeptizismus unter den großen Mitgliedsländern zugenommen hat, beispielsweise in Italien, unterstützen weiter mehr als die Hälfte die EU-Mitgliedschaft, geht aus einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung hervor. Auch die oft zitierte EU-Müdigkeit schlage sich kaum nieder. Abgesehen von kleinen Schwankungen seien stabil rund 70 Prozent der EU-Bürger für den Verbleib ihres Landes in der EU. Bei der Frage, ob sich die EU in die richtige Richtung entwickelt, sinkt die durchschnittliche Zustimmungsrate allerdings auf rund 25 Prozent.