„Erdo˘gan will ein Ein-Mann-Regime“
Der türkische Staatschef setzt auf ein Präsidialsystem und wirbt für ein Ja beim Referendum. Das wäre eine Katastrophe für den säkularen Teil der Bevölkerung, sagt der prominente Autor Zülfü Livaneli.
Statt einer Demokratie mit Gewaltenteilung künftig eine Autokratie in der Türkei? Zülfü Livaneli, Schriftsteller und Musiker, kämpft dagegen an. SN: Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in der Türkei? Zülfü Livaneli: Die Lage ist sehr kritisch. Das Referendum am 16. April ist die letzte Ausfahrt vor der Brücke. Wenn die Zahl der Ja-Stimmen größer ist als das Nein, wird unsere Republik eine radikal andere Richtung einschlagen. SN: Was ist das Ziel von Präsident Erdoğans Verfassungsreform? Sein Ziel ist es, alles zu kontrollieren. Und er macht radikale Schritte hin zu einer Islamisierung der Türkischen Republik. Die Mehrheit des türkischen Volkes ist muslimisch, aber der Staat beruht auf säkularen Prinzipien. Wir sind aufgewachsen mit einer säkularen Erziehung. Die Religion war allein Teil der Privatsphäre. Aber Erdoğan und seine Anhänger wollen eine Republik schaffen, die auf islamischen Werten beruht. Sie sind gegen den Säkularismus. Zudem gibt es einen großen Unterschied zwischen dem türkischen und dem arabischen Islam. Unser Land ist nicht arabisch; und von der Tradition her haben wir eine andere Art von Islam, nämlich eine tolerantere. Aber Erdoğan und seine Freunde sind starke Befürworter des arabischen Islam, und sie möchten dementsprechend eine neue Türkei schaffen. Sie hassen die Bemühungen der säkularen Republik um eine Verwestlichung. SN: Welche Teile der türkischen Gesellschaft unterstützen Erdoğan? Die Regierung war sehr erfolgreich darin, den ärmsten Bevölkerungsschichten zu helfen. Sie hat ihnen Leistungen des Gesundheitssystems, wirtschaftliche Hilfe, Nahrungsmittel und Heizmaterial zukommen lassen. Infolgedessen sind diese Menschen die stärksten Unterstützer Erdoğans. SN: Können auch die Gruppen der Opposition in der Türkei ihre Forderungen ausdrücken? Ja, es gibt eine starke Kampagne für ein Nein. Aber sie findet großteils in den sozialen Medien statt. Die Presse steht unter starkem Druck. SN: Mit welchem Ausgang des Referendums am 16. April rechnen Sie? Wenn es um eine Wahl ginge, würde die Erdoğan-Partei definitiv gewinnen. Aber ein Referendum ist anders. Ich erwarte ein Nein. SN: Was wird passieren, wenn das Ja gewinnt? Erdoğan wird dann die einzige Macht sein. Er wird Exekutive, Legislative und Judikative kontrollieren. Das wird eine Katastrophe für alle säkularen, fortschrittlich denkenden Menschen sein. SN: Was wird passieren, wenn das Nein gewinnt? Das wäre eine gute Antwort auf Erdoğans Ein-Mann-Regime. Er wird dann mit anderen Methoden versuchen, seine Position zu sichern. Aber ich hoffe, dass die Demokratie sich in diesem Fall reparieren wird. SN: Besteht denn die Gefahr eines Bürgerkriegs? Die Türkei ist ein polarisiertes Land. Wir haben die Anhänger des politischen Islam, die Kurdenbewegung und die Nationalisten. Jede dieser Gruppen hasst die andere; und alle haben unterschiedliche Lebensstile. Es wird wohl einige Zusammenstöße geben, aber ich glaube nicht, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen wird. SN: Wie ist die Lage der inhaftierten Journalisten und anderer Intellektueller in der Türkei? Schrecklich. Wir haben viele Freunde, die ohne Beschuldigung oder Anklage im Gefängnis sind. Das Regime hält sie in Haft, um andere Leute in Angst zu versetzen und die Presse zu entmutigen. SN: Was sollte Europa tun, um Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zu fördern? Nach meinen Erfahrungen hat sich Europa falsch verhalten, als es Erdoğan in seinen ersten Amtsjahren so stark unterstützt hat. Europa sollte solidarisch sein mit den modernen, säkularen Bürgern in der Türkei, die an die europäischen Werte glauben. Es ist ein bisschen spät dafür jetzt, aber mein Wunsch besteht nach wie vor. SN: Denken Sie, dass ein EUBeitritt der Türkei noch immer realistisch ist? Von Anfang an habe ich gedacht, dass die Türkei nicht geeignet für eine Vollmitgliedschaft ist. Das habe ich auch geschrieben. Ich wünschte, wir wären offen zueinander gewesen. Wir haben an der West- und Südküste eine politisch entwickelte Bevölkerung, die nach europäischen Werten leben kann. Aber es gibt auch andere Schichten, darunter sind politisch reaktionäre Menschen, die den Westen hassen. SN: Können Sie als Schriftsteller noch immer in der Art und Weise aktiv sein, wie Sie es früher getan haben? Als ich um 20 Jahre alt war, saß ich im Militärgefängnis. Jetzt bin ich 70 und warte vor den Gefängnissen, um unsere Schriftstellerkollegen zu unterstützen, die hinter diesen Mauern sind. Ich bin für sie sozusagen ein Wächter der Hoffnung. Das ist ein tragisches Schicksal wie das von Sisyphus, oder? Ich bin aktiv, aber ich bezahle den Preis dafür. Ich veröffentliche nach wie vor meine Bücher, aber die Behörden haben Plakate für meinen jüngsten Roman verboten. Was kommt als Nächstes? Ich weiß es nicht. Zülfü Livaneli