Salzburger Nachrichten

Eine Welt, die zerbirst und sich im Nichts auflöst

Mahlers Neunte Symphonie wurde mit Franz Welser-Möst zu einem so verstörend­en und unbequemen wie denkwürdig­en Abenteuer bei den Osterfests­pielen Salzburg.

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Kein falsches Gefühl trübt die klare Linie

SALZBURG. Gibt es womöglich zwei Sächsische Staatskape­llen aus Dresden? Jedenfalls hatte der warme, runde, mit sattesten und subtilsten Farben angereiche­rte WagnerKlan­g der „Walküre“abends darauf beim ersten der drei Gastkonzer­te des Orchesters kaum noch etwas gemein mit der unbequemen, harmonisch­e, dynamische und zeitliche Strukturen ausleuchte­nden Exegese, die Franz Welser-Möst den Musikerinn­en und Musikern bei Mahlers 9. Symphonie abverlangt­e. Da gaben die Damen und Herren, so famos disponiert, als hätten sie nicht vier Stunden Wagner hinter sich, alles an greller, bis zum Zerreißen gespannter Energie, dass man vermeinte, Mahlers Weltabschi­edswerk ganz neu zu hören.

In der Tat ist ja die Neunte jenes Stück Zukunftsmu­sik, von dem Alban Berg meinte, es sei überhaupt „das erste Werk der Neuen Musik“. Und ganz so, von Berg her, denkt Welser-Möst den 80-minütigen Koloss auch. Schon das Andante comodo ist alles andere als kommod. Es kündigt sich an, dass einem in den Zerrissenh­eiten dieses Satzes schon die Trümmer einer zerbersten­den Welt – wir schreiben 1908 bis 1910 – um die Ohren fliegen.

Der Ländler darauf („gemächlich, etwas täppisch und sehr derb“will ihn Mahler haben) verweigert sich aller Gemütlichk­eit. Ja, wenn das schlichte, banale Motiv auftritt, wird schon erkennbar: Das ist vielleicht nur noch ein Erinnerung­sfetzen an eine „gute, alte Zeit“.

Grotesk peitscht Welser-Möst die Burleske, den dritten Satz, durch alle Stadien der Wildheit; da fliegen buchstäbli­ch die Fetzen, treibt die Energie unerbittli­ch voran bis zur Erschöpfun­g. Atemlos ist sie gleichwohl nie, weil der Dirigent das turbulente Geschehen ordnet und jederzeit im festen, zupackende­n, kontrollie­renden Griff hat. Die Staatskape­lle gibt da einen harten, stählernen, wenn man will: nachgerade amerikanis­chen Klang, geschärft und klar, wuchtig und doch elastisch, drängend, aber nie drängelnd, sondern geschliffe­n dringlich in präzise gesetzten Konturen.

Es sind die Momente des Bestürzend­en, die diese so außergewöh­nliche Mahler-Deutung so modern machen, es ist kein symphonisc­hes „Theater“, das da aufgeführt wird, sondern ein erbarmungs­loser Aufriss einer neuen Welt, deren Vorschein Mahler noch, sozusagen gerade im letzten Moment, den Trost eines halbstündi­gen Schlussada­gios anfügen kann.

Aber auch da verweigert Franz Welser-Möst alle Gefühligke­it, jedes falsch verstehbar­e oberflächl­iche Sentiment. Er bleibt, bei fließenden, nie schleppend­en Tempi, in der Auffächeru­ng des superb dunklen Streicherk­langs, immer in der geradlinig­en Spur. Welser-Möst ist ja nie der überborden­de Gefühlsmus­iker – was ihn mehr mit dem analytisch­en Geist eines Bruno Walter, dem Uraufführu­ngsdirigen­ten, als etwa mit einem Hitzkopf vom Schlage Bernsteins oder auch mit den immer auch pathetisch­en Gesten eines Christian Thielemann verbinden mag (der seinen ersten Mahler-Gehversuch erst im kommenden Jahr in Salzburg machen will).

Wenn aber diese Welt „ersterbend“sich in immer mehr vereinzeln­den Linien auflöst, im fünf-, sechsfache­n Pianissimo, wenn sie endlich im Nichts verlöscht, dann sind diese so fulminant klar und virtuos, zupackend und straff spielenden Dresdner so entmateria­lisiert (und doch noch im Allerleise­sten präsent), wie ich die letzten Takte dieser Symphonie kaum je gehört habe.

Man hört da im Auditorium, das durchaus ungemütlic­h gefordert wurde, kaum einen Huster. Und nach langer Stille erst den befreiende­n Applaus, der sich nach und nach steigert: Dank für einen großen Abend.

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BILD: SN//OFS/CREUTZIGER Mit aller Energie für Mahler, aus der Perspektiv­e der Zukunft gelesen: Franz Welser-Möst.
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