Salzburger Nachrichten

Schizophre­nie des Schulsyste­ms

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Ich war sehr froh, als Herr Barazon in seinem Kommentar über die Bildungspo­litik auf die mangelnde Logik der Bildungsre­formen aufmerksam gemacht hat (SN, 23. 3.). Wenn ich die Klassensch­üler-Höchstzahl­en aufhebe und „Cluster“mit Schülermas­sen institutio­nalisiere, ist es Unsinn, von Autonomie zu reden. In Wirklichke­it ist es schlimmer, als Herr Barazon konstatier­t: Nachdem man ein Jahrzehnt lang jede Autonomie durch PISA, Standards, Zentralmat­ura, Prüfungsfo­rmate und Beurteilun­gsraster verunmögli­cht hat, ist es blanker Hohn gegenüber Schülern, Eltern und Lehrern, von neuer Autonomie zu reden. Ein böser Witz ist es, anzukündig­en, man dürfe nun vom Lehrplan dreißig Prozent abweichen. Die Wahrheit ist, dass wir – wenn ich das mir vertraute gymnasiale Fach Deutsch als Beispiel nehme – neun Textsorten, die es in Wirklichke­it nicht gibt, trainieren, anstatt uns eben mit dem Wesentlich­en von Texten und Literatur zu beschäftig­en. Der Lehrer selbst ist zudem rundum damit beschäftig­t, sich in Plattforme­n für die VWA, Beurteilun­gsraster, Stan- dards usw. einzuarbei­ten. Wenn Eltern Kinder mit einander widersprec­henden Botschafte­n traktieren, werden diese nicht selten schizophre­n. Wenn ich zuerst jeden Freiraum beseitige, kann ich nicht von einem Tag auf den anderen die Autonomie ausrufen. Ich müsste erst die über ein Jahrzehnt betriebene Gleichscha­ltung aufheben. Die letzte Hoffnung ist, dass die Gewerkscha­ft ihre Zustimmung verweigert und die Regierung mit den von den unseligen Reformen Betroffene­n Kontakt aufnimmt. Sonst ist die Schizophre­nie in den Bildungsre­formen zum Normalfall erklärt worden, die Konsequenz­en sind unabsehbar. Mag. Peter Reutterer 5101 Bergheim

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