Salzburgs „Jedermann“wird komplett erneuert
Von der lustigen Tischgesellschaft bis zum bitteren Sterben: Alles muss anders werden. „Wir machen eine komplett neue Version“, kündigt der soeben bestellte Regisseur an.
Tobias Moretti wird bis zum Sommer einen Crashkurs im christlichen Glauben zu absolvieren haben. Denn der Hauptdarsteller im „Jedermann“könne den Text „nicht sprechen, wenn er dazu keine Haltung hat“, stellt Regisseur Michael Sturminger im Interview mit den „Salzburger Nachrichten“klar. Im Stück, das seit 1920 auf dem Salzburger Domplatz gespielt wird, geht es um Glaube, Reue und Barmherzigkeit ebenso wie um Reichtum, ausschweifendes Liebesleben und luxuriöses Feiern. Beim Sterben des Reichen würden „die größten Themen“angeschnitten, erläutert Michael Sturminger. Denn: „Die Frage nach dem Tod ist letztlich jene nach dem Leben. Warum sind wir da?“
Tobias Moretti, der heuer erstmals die Titelrolle auf dem Domplatz spielen wird, ist derzeit noch in Belgien am Set des „Dreigroschenfilms“. Dieser schildert die Entstehung dieses Theaterstücks und Bertolt Brechts dazugehöriges Filmprojekt. Lars Eidinger spielt Bertolt Brecht, Moretti wird zum Gangster Mackie Messer.
Derweil surren bei den Salzburger Festspielen alle Werkstätten für einen neuen „Jedermann“: Die bisherige Inszenierung ist urheberrechtlich geschützt, so müssen Bühnenbild, Kostüme und jedes szenische Detail bis zur Premiere am 21. Juli neu ersonnen werden. „Also kein bisschen Fahrradfahren der Buhlschaft!“, sagt Sturminger.
Das Vorhaben, die seit 2013 gespielte Inszenierung des „Jedermann“mit neuen Schauspielern aufzufrischen, ist geplatzt. Die Schauspielchefin der Salzburger Festspiele, Bettina Hering, hat in der Vorwoche für die Konstellation mit Brian Mertes und Julian Crouch die Notbremse gezogen. Jetzt springt Michael Sturminger als Regisseur ein: Bis Beginn der Salzburger Festspiele muss alles neu sein – Bühnenbild, Kostüme und szenisches Konzept.
SN: Wie haben Sie erfahren, dass Sie den „Jedermann“inszenieren sollen? Michael Sturminger: Frau Hering hat mich angerufen und zu einem Gespräch gebeten. Da war ich schon in Salzburg (für „Lohengrin“der Osterfestspiele, Anm.).
Das war ein bisschen so, als ob jemand anriefe und sagte, er habe eine Mietwohnung gefunden. Selbst sucht man zwar keine Wohnung, aber die angebotene ist dermaßen schön, dass man sie nimmt und nicht lange fragt, warum die Vormieter ausgezogen sind.
SN: Haben Sie je daran gedacht, einmal den Salzburger „Jedermann“zu inszenieren? Das war jenseits meiner Gedanken. Das ist ja dermaßen eine Institution! Das ist so, um im vorigen Bild zu bleiben, wie wenn jemand sagte: „Sie kriegen eine 280-Quadratmeter-Wohnung am Domplatz.“Da kann man nicht Nein sagen.
SN: Erbaten Sie Bedenkzeit? So etwas kann man nicht über Nacht zusagen. Das zieht einen Rattenschwanz von Fragen hinter sich her – was ist an Verträgen abgeschlossen, wie lange können Proben sein? Ein paar Tage haben wir viel miteinander gesprochen und versucht abzustecken, ob das zu machen ist. Da ist herausgekommen, dass wir die Unterstützung von allen bekommen, die wir brauchen. So haben wir erkannt: Das ist zwar ein großes, aber zumindest ein vernünftiges Abenteuer.
SN: Wird alles neu? Samt Bühnenbild und Kostümen? Für so eine Produktion gibt es ein Urheberrecht. Das heißt, man kann sich nicht die Rosinen herauspicken. Also kein bisschen Fahrradfahren der Buhlschaft! Wir machen eine komplett neue Version.
SN: Das klingt grimmig für die nun verbleibende Zeit. Wenn man das jahrelang vorher bespräche, würde man sich’s vielleicht nicht trauen. Aber wir sind jetzt gezwungen, alles anders zu machen und eine neue Sicht zu entwickeln. Allerdings sind wir nicht an eine Tradition gebunden. Wir haben eine Tabula rasa.
SN: Welche Berührungspunkte haben Sie mit dem „Jedermann“gehabt? Wenn ich bedenke, wie viel ich bei den Salzburger Festspielen gesehen habe, war der „Jedermann“nicht vordringlicher Anziehungspunkt. Ich liebe das Werk Hofmannsthals, am allermeisten den „Rosenkavalier“, auch die „Ariadne“– feiner Witz, großer Intellekt, große Seelenschau! Der „Jedermann“ist holzschnittartiger, direkter.
SN: Was daran ist interessant? „Jedermann“ist ein Phänomen. Als das Stück 1911 in Berlin uraufgeführt wurde, erläuterte es Hofmannsthal mit Annäherungen an Hans Sachs oder Shakespeare’sches Theater. Dann hat Max Reinhardt 1920 hier in Salzburg ein solches Spektakel veranstaltet, dass es ein Riesenerfolg wurde und Hofmannsthal total anders und plötzlich selbstbewusst darüber schrieb. Offenbar hat Max Reinhardt hier diesen Platz als Mitspieler gefunden.
SN: Wen als „Mitspieler“? Den Domplatz, diesen Ort, diese fantastische Aura! Das Phänomen „Jedermann“hat gleich viel mit diesem Platz zu tun wie mit dem Text. Diese Kombination macht es aus. Das hat mit üblicher Theaterwahrnehmung wenig zu tun.
SN: Was ist anders? Die Bedeutung ist insofern viel größer, als das „Jedermann“-Publikum weit über jene Zirkel hinausgeht, die sonst ins Theater gehen. Man muss auch jenen, die den Text oder andere Theaterliteratur nicht kennen, die Chance geben, die Aufführung zu genießen. Zugleich muss man den versierten Theatergehern etwas bieten. Diese Quadratur des Kreises ist mir nicht fremd.
SN: In Perchtoldsdorf ist für 28. Juni die Premiere der „Minna von Barnhelm“angekündigt – in Ihrer Regie, in Ausstattung von Renate Martin und Andreas Donhauser. Bleibt das? Die „Minna“bleibt, aber ich suche ein neues Team. Die können auf unserer Arbeit aufbauen. In den nächsten Tagen wird sich herausstellen, an wen wir’s übergeben.
SN: Was sonst ändert das Salzburger Engagement für Sie im nächsten halben Jahr? Es sind nur drei Monate bis zur Premiere! Ein Vierteljahr! Was sich ändert? Ich bin ab sofort in Salzburg!
SN: Sie beziehen also quasi besagte Wohnung am Domplatz. Ja, genau! (Lacht.)
SN: Bei den Osterfestspielen ist am Sonntag noch Ihre Inszenierung von Salvatore Sciarrinos „Lohengrin“zu sehen. Was ist da zu entdecken, das Sie als Regisseur ausmacht? Einer Darstellerin wie Sarah Maria Sun (als Elsa, Anm.) kann ich so zuschauen, dass sie sich traut, ganz in den Fluss der Rolle zu geraten. Was ich ihr in Proben mitgeben kann, soll ihr dazu dienen, keine Angst haben zu müssen, etwas falsch zu spielen. Dieses Zusammenwirken habe ich auch mit John Malkovich entwickelt und werde dies hoffentlich auch mit Tobias Moretti zustande bringen: Vertrauen bauen.
Ich kann mit Schauspielern nur so arbeiten: dass ich sie schütze. Ich verstehe nicht, wie und warum Regisseure oder Dirigenten mit Druck arbeiten. Mir ist unvorstellbar, dass Künstler unter Angst größte Leistungen erbringen sollten. Ich hingegen versuche, Sicherheit zu geben. Kunst entsteht nur dann, wenn man wohin marschiert, wo man noch nie gewesen ist. Und sie entsteht dann, wenn die Angst ebenso weg ist wie die Absicht. Nur dann können Darsteller ihre Intuition fließen lassen.
SN: Aber in dieser Inszenierung sieht man viele konkrete Details und eine präzise Entwicklung. Das ist kein Laissez-faire. Da ist in Sciarrinos Stück unfassbar viel angelegt. Diese wenigen kryptischen Sätze sind wie ein Gedicht zu lesen. Das mag im ersten Augenblick abstrakt erscheinen, doch je besser man es kennt, desto lesbarer werden die Situationen. Diese kann nur spielen, wer sie versteht. Auch Hofmannsthals Text ist nicht leicht. Und Tobias (Moretti) ist so ein Schauspieler: Er kann etwas nicht sprechen, wenn er dazu keine Haltung hat. Die werden wir gemeinsam ergründen und finden. Im „Jedermann“gibt es viele Ecken und Enden, deren Bedeutungen schwierig auszuloten sind.
SN: Wo zum Beispiel? Wenn er über den Glauben redet oder wenn es um seinen Reichtum geht. Wie gut, wie schlecht ist Reichtum? Überhaupt schneidet dieses Stück die größten Themen an: Die Frage nach dem Tod ist letztlich jene nach dem Leben. „Warum sind wir da?“ist die allererste Frage der Menschheit – noch vor Eros und Fortpflanzung.
Oft sind das nur einzelne Sätze. Sich jeden davon zu eigen zu machen ist viel Arbeit. Nur wenn ein Schauspieler mit aller Intuition, allem Können und Hirn dahintersteht, kann er überzeugend sein. Tobias nimmt das sehr ernst. Das muss er auch, um in der Liga seiner Vorgänger mitzuhalten.
Zudem ist es eine große Aufgabe, die Zuschauer mit Fragen zu beschäftigen, denen sie sonst ausweichen, und sie dabei zu unterhalten.
SN: Wieso ausweichen? Wer fragt sich gern, ob es ungerecht ist, wie gut es ihm geht? Ob er moralisch einwandfrei lebt? Ob er teilt, wenn er teilen sollte? Ob er da wäre für den Liebespartner, wenn es ums Verrecken geht? Diese Fragen soll man den Leuten an einem schönen Sommernachmittag so vermitteln, dass sie möglichst noch Spaß dabei haben. Das ist nicht simpel.
SN: Haben Sie schon mit Tobias Moretti gearbeitet? Ich noch nicht, aber wir kennen einander gut, wir haben viele gemeinsame Freunde. Mit seinem Bruder Gregor (Bloéb) hab ich viel gemacht.
Tobias und ich haben schon seit Langem vor, miteinander zu arbeiten. Und die beiden Ausstatter (Renate Martin und Andreas Donhauser) haben zwei Mal mit ihm als Regisseur gearbeitet – für „Il mondo della luna“in Wien und „La finta giardiniera“in Zürich.
SN: Stammt die Idee von ihm, Sie als Retter zu holen? Das weiß ich nicht. Auch Bettina (Hering) und ich kennen uns lange und schätzen uns sehr. Sie hat lange für den Neustart der bisherigen Inszenierung gekämpft.
SN: Wissen Sie, warum das nicht gelungen ist? Es kann passieren, dass zwei Seiten versuchen, etwas zustande zu bringen, und trotzdem nicht zusammenkommen. In Details bin ich nicht involviert. Für mich ist dieses Angebot eine große Ehre. Mir ist bewusst, dass der „Jedermann“vielen Menschen etwas bedeutet. Ich freue mich sehr auf diese Aufgabe.
„Die Frage nach dem Tod ist letztlich jene nach dem Leben.“