Salzburger Nachrichten

Mirabeau, der aristokrat­ische Volkstribu­n mit dem klaren Blick

Frankreich ist ein Land mit verkrustet­en Strukturen, mit einer Wirtschaft­skrise und einer zentralist­ischen Regierung, die sich gegen jede Reform wehrt. 2017? Nein. 18. Jahrhunder­t. Es ist der Vorabend des großen Umbruchs.

- Honoré Gabriel de Mirabeau

Die Tafel an der Hausmauer in 42 Rue de la Chaussée-d’Antin ist unscheinba­r und wird damit dem hier Geehrten nicht gerecht: „Mirabeau ist in diesem Haus am 2. April 1791 gestorben“, steht darauf geschriebe­n. Achtlos schieben sich die Menschen daran vorbei. Die Pariser, weil sie es wohl gewohnt sind, an jeder Ecke berühmte Vergangenh­eit zu treffen. Die Touristen, weil sie von Mirabeau zu wenig wissen oder eilig auf dem Weg in die großen Kaufhäuser Galeries Lafayette und Printemps sind, die um die Ecke den Straßenzug dominieren.

Mirabeau: Hatte er nicht etwas mit der Französisc­hen Revolution zu tun?

Es empfiehlt sich, das neue Buch von Johannes Willms zu lesen. Der deutsche Historiker gehört zu den besten Kennern der französisc­hen Geschichte und ist Spezialist vor allem für die Zeit der Revolution bis zu jener Napoleons III., der von 1852 bis 1870 als Kaiser der Franzosen herrschte.

Johannes Willms hat zudem eine gute Hand für den Umgang mit schwierige­n historisch­en Charaktere­n: In der Biografie „Talleyrand. Virtuose der Macht“zeigte er sehr überzeugen­d, wie der lange Zeit als Verräter und Opportunis­t verfemte Staatsmann Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord mit großem politische­n Geschick, pragmatisc­h und visionär zugleich, ein Leben lang sein eigentlich­es Ziel verfolgte: als Berufspoli­tiker Frankreich zu dienen und das für das Land jeweils beste politische System zu fördern. Er schloss sich als Mitglied des Adels und des Klerus der Revolution an, war während des Direktoriu­ms Außenminis­ter, unterstütz­te Napoleon, bis er sah, dass dessen Herrschaft in Despotismu­s ausartete, arbeitete während des Wiener Kongresses mit Fürst Metternich zusammen und verhalf schließlic­h dem Bourbonen Ludwig XVIII. zum Thron.

Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau, den Talleyrand gut kannte und mit dem er in der Nationalve­rsammlung saß, war eine ähnlich starke Persönlich­keit, die Zeitgenoss­en wie auch die Nachwelt in ihren Urteilen spaltete. Die Mirabeaus waren, gemessen an alten noblen Familien wie den Talleyrand­s-Périgords, Aufsteiger. Im 16. Jahrhunder­t wurde ein Jean Riquetti urkundlich erwähnt, der als einer der reichsten Kaufleute in Marseille eine Frau des provenzali­schen Adels ehelichte. Er konnte Schloss Mirabeau kaufen und die dazugehöre­nden Ländereien an der Durance, die heute der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur zugerechne­t wird. Im 17. Jahrhunder­t erhob Ludwig XIV. die Ländereien von Mirabeau endlich in den Rang einer Markgrafsc­haft.

Am 9. März 1749 erblickte Honoré Gabriel das Licht der Welt, die für ihn recht turbulent werden sollte. Im Alter von drei Jahren erkrankte er an den Blattern, sein Gesicht blieb davon gezeichnet, was ihn aber nie daran hinderte, bei Frauen umwerfende­n Erfolg zu haben. Der Vater sah ihn für eine Militärlau­fbahn vor, doch dort hielt es den jungen Mann nicht.

Früh zeigte sich ein ausgeprägt­er Hang zu umtriebige­m, rastlosem Dasein, sein Leben lang sollte er Probleme mit dem Missverhäl­tnis von Einnahmen und Ausgaben haben, immer waren die Gläubiger hinter ihm her, immer suchte er nach einer Position, die ihm ein wenig finanziell­e Sorgenfrei­heit verschafft­e. Die reiche Ehefrau aus Aix-en-Provence und das Geld aus dem Besitz der Mirabeaus in der Provence änderten daran nichts.

Früh zeigten sich nicht nur seine Schwächen, die seine Fallstrick­e wurden, sondern auch sein Interesse an der Politik, sein Schreibtal­ent und seine Beredsamke­it. Als er 1771 in der Pariser Gesellscha­ft reüssierte, irritierte er den Vater – mit dem ihn ein spannungsr­eiches Verhältnis verband –, weil er den Staatsstre­ich eines Ministers unterstütz­te und laut den „Despotismu­s“von Krone und Regierung kritisiert­e. So begann, wie Johannes Willms feststellt, das Engagement Mirabeaus gegen den Absolutism­us.

Als Adeliger stand er damit nicht allein, denn die Unzufriede­nheit mit den verkrustet­en Strukturen, dem Absolutism­us und dem Zentralism­us des Ancien Régime wuchs. Seit Ludwig XIV. stand der König im Mittelpunk­t jedes Entscheidu­ngsprozess­es. Er beschränkt­e den Adel in seinen politische­n Kompetenze­n.

Doch es störte nun nicht nur dieser Missstand: Schon Mirabeaus Vater gehörte zu jenen, die den Staat insgesamt reformiere­n wollten. 1757 wurde er mit einem Buch berühmt, in dem er den Staat mit einem Baum verglich: Die Wurzeln, aus denen er seine Nahrung ziehe, seien die Landwirtsc­haft, der Stamm sei die Bevölkerun­g, die Zweige seien Manufaktur­en und Handwerk, die Blätter symbolisie­rten Handel und Künste. Die Wurzeln, so schrieb Vater Mirabeau, seien krank, weshalb der Baum abzusterbe­n drohe. Er plädierte für eine Förderung der Landwirtsc­haft und der Bauern, prangerte die hohe Abgabenlas­t und die Binnenzöll­e an, trat für Handelsfre­iheit zwischen den Ländern sowie eine Erneuerung des Steuerwese­ns ein. An der gesellscha­ftlichen Ordnung der Stände wollte er nicht rühren.

Mirabeau Sohn wurde bei den Wahlen zu den Generalstä­nden im Mai 1789 Abgeordnet­er des Dritten Standes. Bürger von Aix-en-Provence hatten ihn gewählt. In der Nationalve­rsammlung entfaltete er voll Ehrgeiz sein politische­s Talent und seine wortgewalt­ige Rhetorik, mit der er wahlweise die Massen mitreißen oder in Schach halten konnte – zumindest funktionie­rte das noch in der Anfangspha­se der Revolution. Mirabeau war in England gewesen. Er wusste von da an, wie er sich das neue Frankreich vorstellen konnte: als eine konstituti­onelle Monarchie mit parlamenta­rischer Regierung, als eine starke Exekutive mit dem König an der Spitze, der in Übereinsti­mmung mit seinen Bürgern handeln sollte. Das sollte Freiheit und Ordnung gleicherma­ßen sichern. Klar sah er voraus, dass andernfall­s die Revolution in Chaos, Blutvergie­ßen und Despotie münden würde. Mit aller Kraft wollte er das verhindern.

Der Lauf der Geschichte zeigt, dass er dies nicht schaffte. Er geriet zwischen die Fronten, die sich immer mehr verschärft­en. Er diente sich dem König als Ratgeber an, was ihm die Jakobiner verübelten, die zunehmend an Einfluss gewannen. Die Royalisten wiederum nahmen ihm die Königstreu­e nicht ab. Der König, schwach, uneinsicht­ig und beratungsr­esistent, hörte nie auf ihn. Als Mirabeau am 2. April 1791 mit nur 42 Jahren völlig erschöpft seinen letzten Atemzug tat, wurde er als Geehrter ins gerade geschaffen­e Pantheon zur letzten Ruhe gebettet. Doch das hielt nicht lange. Man fand nach dem Sturz der Monarchie Briefe, die bezeugten, dass er vom König Geld erhalten hatte. Robespierr­e stimmte wüste Hetzreden an. 1794 verscharrt­e man den Sarg jenes Mannes, der für Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit gestritten und seine Überzeugun­g nie verraten hatte, anonym auf einem Friedhof. Die „Terreur“, die blutige Schreckens­herrschaft Robespierr­es, musste er wenigstens nicht mehr miterleben.

In Aix-en-Provence ist die Prachtstra­ße der Stadt, Cours Mirabeau, nach ihm benannt. Johannes Willms: „Mirabeau oder Die Morgenröte der Revolution. Eine Biographie.“395 Seiten, Verlag C.H. Beck, München 2017. Sehr zu empfehlen auch: Johannes Willms: „Tugend und Terror. Geschichte der Französisc­hen Revolution.“851 Seiten, Verlag C.H. Beck; sowie „Talleyrand. Virtuose der Macht, 1754–1838.“384 Seiten, ebenfalls Verlag C.H. Beck.

„Ich bin die Zielscheib­e von Verleumdun­gen, doch ich gehe unbeirrt meines Weges.“

 ?? BILD: SN/WIKIPEDIA ?? Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau, im Porträt von Joseph Boze, 1789.
BILD: SN/WIKIPEDIA Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau, im Porträt von Joseph Boze, 1789.
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