Wahnsinn Level
Wir amüsieren uns zu Tode. Der Mensch braucht Freude, um gesund zu bleiben. Wir aber wollen uns seit Jahren nur vergnügen und müssen deshalb ständig die Dosis erhöhen. Die Frage ist: Wie süchtig sind wir eigentlich schon?
Vor 60 Jahren gab es noch keinen Spaß. „Wir sind jeden Samstag mit dem Moped auf ein Vergnügen gefahren“, erinnert sich Elfriede (78). Ihr wöchentliches Vergnügen bestand aus einem Weißbier und einer Scheibe warmem Leberkäse. Und das wahre Abenteuer war die Heimfahrt auf dem Gepäckträger des Mopeds ihres heutigen Ehemanns Siegfried: „Da prasselten während der Fahrt die Steine auf meine Beine.“So sah Vergnügen im Jahr 1957 aus. Das Wort „Spaß“taucht im Sprachgebrauch erstmals im 17. Jh. auf. Es kommt aus dem ital. spasso, was so viel bedeutet wie „Zerstreuung, Zeitvertreib, Vergnügen“. Wenn aber mit jemandem Spaß getrieben wurde, dann war das selten ein Vergnügen. Denn dieser Person wurde ein Streich gespielt. Im „Meyers Konversations-Lexikon“von 1871 war das Wort „Spaß“auch noch nicht enthalten. Dafür wurden der „Arbeit“gleich zehn Seiten gewidmet. Die Arbeit galt damals als „willkürliche Kraftäußerung des Menschen“, die zu einem „unmittelbaren Gefühl des Wohlbehagens“führe. Aus damaliger Sicht wäre also der von Red Bull veranstaltete 400-Meter-„Bergauflauf“in Bischofshofen unbezahlte Arbeit und kein zu bezahlender Spaß.
Wichtig war im 19. Jahrhundert in erster Linie die Freude. Diese wurde so definiert: „Freude ist ein hoher Grad des Vergnügens, hervorgegangen aus dem lebhaften Gefühl eines erhöhten Wohlbefindens und gestützt auf einem bestimmten Gegenstand, der ihm zu Grunde liegt.“Das war 1871. 131 Jahre später standen erstmals Erwachsene in New York in Unterhosen in der U-Bahn, um den „No Pants Day“zu begehen. Das war ein Spaß. Daraus wurde im Laufe der Jahre eine Veranstaltungsserie, die heute in mehr als 100 Metropolen von Zigtausend Erwachsenen zelebriert wird. Kindern würde man diesen Spaß wohl nicht erlauben.
Der Linzer Psychologe Rainer Holzinger hat dieses Phänomen unter die Lupe genommen. Sein Befund: „Wir leben in einer Welt der Bespaßung. Die ,Vergnügeritis‘ greift um sich und wird – anstatt als Krankheit in die Nomenklatur der Psychiatrie aufgenommen zu werden – sogar als erstrebenswertes Ziel hochstilisiert.“Dabei bräuchte der Mensch nur die Freude, um geistig gesund zu bleiben. „Freude kommt ja von froh sein. Erich Fromm spricht hier von einem für unsere Entwicklung als Menschen wichtigen ,Begleiter‘, welcher vom nur kurz währenden Hochgefühl durch Vergnügen unterschieden werden muss.“
Warum aber hat für viele in der Gesellschaft die echte Freude so oft das Nachsehen gegenüber dem Spaß? „Vergnügen steht heute allzeit zur Verfügung und kann passiv konsumiert werden“, sagt Holzinger. „Freude dagegen braucht Eigeninitiative und auch den langsam gelebten schönen Augenblick. Das Vergnügen lenkt von mir als Menschen ab, die Freude aber bringt mich mit mir in Kontakt.“Auch Friedrich Nietzsche warnte schon vor 150 Jahren: „Die Mutter der Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit.“
Zur Kunstform wurde die Spaßkultur in den vergangenen drei Jahrzehnten vom Getränkekonzern Red Bull erhoben. Dieser fördert Aktivitäten, die das kurzweilige Vergnügen in den Vordergrund stellen. Dafür lassen die Werbestrategen schon einmal ganze Dörfer kurzfristig in Vergnügungsparks umbauen. Wie bei der Veranstaltungsserie „Play Streets“, bei der Athleten mit Ski über Hausdächer schlittern und dem Publikum atemberaubende Shows liefern. Mit neu erfundenen Fachsprachen werden nebenbei völlig neue Scheinwelten aufgebaut. Auf der Website des Veranstalters liest sich das dann so: „Unter tosendem Applaus stickte der Schwede Jesper Tjäder im Final-Run gegen seinen Schweizer Rivalen Andri Ragettli jeden Trick aufs Feinste und sicherte mit einem Right Side Double Flatspin Japan Grab, einem Frontside 450 off auf der Canon-Rail gefolgt von einem Switch 180 Nosegrab, einem Leftside Cork 360 Mutegrab und einem piekfeinen 450 Gap auf dem Schwiegermutter Rail den verdienten Sieg!“So viele Fremdwörter bringt nicht einmal ein Gefäßchirurg bei einer Vorlesung an der Uni unter.
Tatsächlich kommt das Wort „Spaßgesellschaft“ursprünglich aus der Sportberichterstattung. Erstmals wurde es von dem Reporter Josef-Otto Freudenreich in der „taz“am 23. Jänner 1993 verwendet. Freudenreich benutzte es in einem Porträt über den Fußballtrainer Peter Neururer, der „von der Spaßgesellschaft nach oben gespült“worden sei und überraschend zum Trainer des 1. FC Saarbrücken berufen wurde. 24 Jahre später ist die Spaßgesellschaft auch geografisch ganz oben angekommen. Etwa mit Snowvolleyballturnieren auf 1800 Metern Seehöhe. Die Spieler werden mit Tausenden von Watt beschallt, und in der angrenzenden Skihütte steht eisgekühlter Champagner für die Zuseher und Funktionäre bereit. Auch hier gilt: Es kann längst nicht jeder teilnehmen, aber man kann live ganz oben dabei sein – wenn man genug Geld hat. Das erhöht auch den Status der Zuschauer. Vor sechs Wochen wurde sogar schon bei Teheran auf nahezu 5000 Metern Seehöhe im Schnee bei Disco-Beats gebaggert.
Als Basiscamp aller rekordverdächtigen Höchstleistungen dient für Spaß-Junkies seit Jahren die Website von Red Bull. Hier werden am laufenden Band schräge Leistungen präsentiert. Etwa das Abenteuer von Jim „The Shark“Dreyer, der drei Tage und zwei Nächte lang ein Boot mit einer halben Tonne Ziegelsteine über den Lake St. Clair gezogen hat. Auf seiner „Karteikarte“ist unter anderem zu lesen: Wo: USA Gefahren: Ertrinken, Sauerstoffmangel, Kentern Wahnsinnslevel :8 Status: Geschafft
Die Red-Bull-Höchstnote „Wahnsinnslevel 10“schaffte etwa der dänische Taucher Stig Severinsen. Ihm gelang es in Grönland, ohne Sauerstoffgerät 80 Meter unter einer Eisdecke bis zum nächsten Eisloch zu tauchen. Höchstleistungen wie diese – auch todesmutige – sind nicht neu. Früher waren sie im Zirkus zu bewundern, heute sind sie in Endlosschleife auf YouTube zu sehen, was den Werbepartnern der Athleten natürlich sehr entgegenkommt. Seitdem sind der spaßigen Rekordjagd samt deren digitalen Dauerausstellungen keine Grenzen mehr gesetzt. Der Psychologe Holzinger: „Verkürzt könnte man sagen: Freude macht lustig, Vergnügen macht süchtig. Und eine Sucht ist dadurch definiert, dass die Dosis erhöht werden muss, wenn man die Wirkung aufrechterhalten will. Zum anderen existiert ja tatsächlich auch ein Spaß im Ausloten der Grenzen. Uneingeschränkte Freiheit macht aber nicht glücklicher, transparente Grenzziehung hingegen macht oftmals sicherer. Leider findet heute ein Großteil der Menschen sein Auslangen mit ,Brot und Zirkusspielen‘ und hinterfragt nicht mehr die Intention der ,Bespaßer‘, aber genauso wenig jene der ,Spaßbremsen‘.“
Der Wiener Philosoph Robert Pfaller wiederum weist auf die Verantwortung der Medien hin, die diesen Teufelskreis erst ermöglichen. In seinem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“beschreibt er, dass heute fast alles Radikale und Übertriebene an die „Unterschicht“delegiert wird. Ein Beispiel: Nachdem die Oberschicht an einem Mangel an sexueller Erfüllung leidet, lässt diese
Vergnügen steht heute allzeit bereit – auch zum passiven Konsum. Rainer Holzinger, Psychologe