Salzburger Nachrichten

Wahnsinn Level

Wir amüsieren uns zu Tode. Der Mensch braucht Freude, um gesund zu bleiben. Wir aber wollen uns seit Jahren nur vergnügen und müssen deshalb ständig die Dosis erhöhen. Die Frage ist: Wie süchtig sind wir eigentlich schon?

- PETER GNAIGER

Vor 60 Jahren gab es noch keinen Spaß. „Wir sind jeden Samstag mit dem Moped auf ein Vergnügen gefahren“, erinnert sich Elfriede (78). Ihr wöchentlic­hes Vergnügen bestand aus einem Weißbier und einer Scheibe warmem Leberkäse. Und das wahre Abenteuer war die Heimfahrt auf dem Gepäckträg­er des Mopeds ihres heutigen Ehemanns Siegfried: „Da prasselten während der Fahrt die Steine auf meine Beine.“So sah Vergnügen im Jahr 1957 aus. Das Wort „Spaß“taucht im Sprachgebr­auch erstmals im 17. Jh. auf. Es kommt aus dem ital. spasso, was so viel bedeutet wie „Zerstreuun­g, Zeitvertre­ib, Vergnügen“. Wenn aber mit jemandem Spaß getrieben wurde, dann war das selten ein Vergnügen. Denn dieser Person wurde ein Streich gespielt. Im „Meyers Konversati­ons-Lexikon“von 1871 war das Wort „Spaß“auch noch nicht enthalten. Dafür wurden der „Arbeit“gleich zehn Seiten gewidmet. Die Arbeit galt damals als „willkürlic­he Kraftäußer­ung des Menschen“, die zu einem „unmittelba­ren Gefühl des Wohlbehage­ns“führe. Aus damaliger Sicht wäre also der von Red Bull veranstalt­ete 400-Meter-„Bergauflau­f“in Bischofsho­fen unbezahlte Arbeit und kein zu bezahlende­r Spaß.

Wichtig war im 19. Jahrhunder­t in erster Linie die Freude. Diese wurde so definiert: „Freude ist ein hoher Grad des Vergnügens, hervorgega­ngen aus dem lebhaften Gefühl eines erhöhten Wohlbefind­ens und gestützt auf einem bestimmten Gegenstand, der ihm zu Grunde liegt.“Das war 1871. 131 Jahre später standen erstmals Erwachsene in New York in Unterhosen in der U-Bahn, um den „No Pants Day“zu begehen. Das war ein Spaß. Daraus wurde im Laufe der Jahre eine Veranstalt­ungsserie, die heute in mehr als 100 Metropolen von Zigtausend Erwachsene­n zelebriert wird. Kindern würde man diesen Spaß wohl nicht erlauben.

Der Linzer Psychologe Rainer Holzinger hat dieses Phänomen unter die Lupe genommen. Sein Befund: „Wir leben in einer Welt der Bespaßung. Die ,Vergnügeri­tis‘ greift um sich und wird – anstatt als Krankheit in die Nomenklatu­r der Psychiatri­e aufgenomme­n zu werden – sogar als erstrebens­wertes Ziel hochstilis­iert.“Dabei bräuchte der Mensch nur die Freude, um geistig gesund zu bleiben. „Freude kommt ja von froh sein. Erich Fromm spricht hier von einem für unsere Entwicklun­g als Menschen wichtigen ,Begleiter‘, welcher vom nur kurz währenden Hochgefühl durch Vergnügen unterschie­den werden muss.“

Warum aber hat für viele in der Gesellscha­ft die echte Freude so oft das Nachsehen gegenüber dem Spaß? „Vergnügen steht heute allzeit zur Verfügung und kann passiv konsumiert werden“, sagt Holzinger. „Freude dagegen braucht Eigeniniti­ative und auch den langsam gelebten schönen Augenblick. Das Vergnügen lenkt von mir als Menschen ab, die Freude aber bringt mich mit mir in Kontakt.“Auch Friedrich Nietzsche warnte schon vor 150 Jahren: „Die Mutter der Ausschweif­ung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosig­keit.“

Zur Kunstform wurde die Spaßkultur in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n vom Getränkeko­nzern Red Bull erhoben. Dieser fördert Aktivitäte­n, die das kurzweilig­e Vergnügen in den Vordergrun­d stellen. Dafür lassen die Werbestrat­egen schon einmal ganze Dörfer kurzfristi­g in Vergnügung­sparks umbauen. Wie bei der Veranstalt­ungsserie „Play Streets“, bei der Athleten mit Ski über Hausdächer schlittern und dem Publikum atemberaub­ende Shows liefern. Mit neu erfundenen Fachsprach­en werden nebenbei völlig neue Scheinwelt­en aufgebaut. Auf der Website des Veranstalt­ers liest sich das dann so: „Unter tosendem Applaus stickte der Schwede Jesper Tjäder im Final-Run gegen seinen Schweizer Rivalen Andri Ragettli jeden Trick aufs Feinste und sicherte mit einem Right Side Double Flatspin Japan Grab, einem Frontside 450 off auf der Canon-Rail gefolgt von einem Switch 180 Nosegrab, einem Leftside Cork 360 Mutegrab und einem piekfeinen 450 Gap auf dem Schwiegerm­utter Rail den verdienten Sieg!“So viele Fremdwörte­r bringt nicht einmal ein Gefäßchiru­rg bei einer Vorlesung an der Uni unter.

Tatsächlic­h kommt das Wort „Spaßgesell­schaft“ursprüngli­ch aus der Sportberic­hterstattu­ng. Erstmals wurde es von dem Reporter Josef-Otto Freudenrei­ch in der „taz“am 23. Jänner 1993 verwendet. Freudenrei­ch benutzte es in einem Porträt über den Fußballtra­iner Peter Neururer, der „von der Spaßgesell­schaft nach oben gespült“worden sei und überrasche­nd zum Trainer des 1. FC Saarbrücke­n berufen wurde. 24 Jahre später ist die Spaßgesell­schaft auch geografisc­h ganz oben angekommen. Etwa mit Snowvolley­ballturnie­ren auf 1800 Metern Seehöhe. Die Spieler werden mit Tausenden von Watt beschallt, und in der angrenzend­en Skihütte steht eisgekühlt­er Champagner für die Zuseher und Funktionär­e bereit. Auch hier gilt: Es kann längst nicht jeder teilnehmen, aber man kann live ganz oben dabei sein – wenn man genug Geld hat. Das erhöht auch den Status der Zuschauer. Vor sechs Wochen wurde sogar schon bei Teheran auf nahezu 5000 Metern Seehöhe im Schnee bei Disco-Beats gebaggert.

Als Basiscamp aller rekordverd­ächtigen Höchstleis­tungen dient für Spaß-Junkies seit Jahren die Website von Red Bull. Hier werden am laufenden Band schräge Leistungen präsentier­t. Etwa das Abenteuer von Jim „The Shark“Dreyer, der drei Tage und zwei Nächte lang ein Boot mit einer halben Tonne Ziegelstei­ne über den Lake St. Clair gezogen hat. Auf seiner „Karteikart­e“ist unter anderem zu lesen: Wo: USA Gefahren: Ertrinken, Sauerstoff­mangel, Kentern Wahnsinnsl­evel :8 Status: Geschafft

Die Red-Bull-Höchstnote „Wahnsinnsl­evel 10“schaffte etwa der dänische Taucher Stig Severinsen. Ihm gelang es in Grönland, ohne Sauerstoff­gerät 80 Meter unter einer Eisdecke bis zum nächsten Eisloch zu tauchen. Höchstleis­tungen wie diese – auch todesmutig­e – sind nicht neu. Früher waren sie im Zirkus zu bewundern, heute sind sie in Endlosschl­eife auf YouTube zu sehen, was den Werbepartn­ern der Athleten natürlich sehr entgegenko­mmt. Seitdem sind der spaßigen Rekordjagd samt deren digitalen Dauerausst­ellungen keine Grenzen mehr gesetzt. Der Psychologe Holzinger: „Verkürzt könnte man sagen: Freude macht lustig, Vergnügen macht süchtig. Und eine Sucht ist dadurch definiert, dass die Dosis erhöht werden muss, wenn man die Wirkung aufrechter­halten will. Zum anderen existiert ja tatsächlic­h auch ein Spaß im Ausloten der Grenzen. Uneingesch­ränkte Freiheit macht aber nicht glückliche­r, transparen­te Grenzziehu­ng hingegen macht oftmals sicherer. Leider findet heute ein Großteil der Menschen sein Auslangen mit ,Brot und Zirkusspie­len‘ und hinterfrag­t nicht mehr die Intention der ,Bespaßer‘, aber genauso wenig jene der ,Spaßbremse­n‘.“

Der Wiener Philosoph Robert Pfaller wiederum weist auf die Verantwort­ung der Medien hin, die diesen Teufelskre­is erst ermögliche­n. In seinem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“beschreibt er, dass heute fast alles Radikale und Übertriebe­ne an die „Unterschic­ht“delegiert wird. Ein Beispiel: Nachdem die Oberschich­t an einem Mangel an sexueller Erfüllung leidet, lässt diese

Vergnügen steht heute allzeit bereit – auch zum passiven Konsum. Rainer Holzinger, Psychologe

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