Wenn „Europa“zum positiven Schlagwort wird
Die EU wird zum Kristallisationspunkt des demokratischen Diskurses und demokratischer Bewegungen in Europa.
Lange, allzu lange schon befindet sich die Europäische Union in der Defensive. Sie wird von den Regierungen der Mitgliedsstaaten als Sündenbock missbraucht, dem alles angelastet wird, was schiefgeht. Dies trotz der Tatsache, dass alles, was die EU beschließt, zum einen auf Forderungen von Mitgliedern zurückgeht und von allen oder wenigstens einer großen Mehrheit der Mitgliedsstaaten beschlossen wurde. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Politiker daheim grundsätzlich gegen das protestieren, was sie selbst gerade auf dem Brüsseler Parkett gefordert, gefördert oder geduldet haben.
Kein Wunder also, dass gerade für nationalistische Oppositionsparteien rundum der Angriff auf die EU und ihre Institutionen das probate Vehikel im Wahlkampf ist, um Stimmen zu fangen. Kein Wunder, dass diesen nationalistischen Politikern keine Lüge zu plump und kein Gerücht zu unglaubwürdig ist, als dass sie nicht gegen das gemeinsame Europa eingesetzt würden. Es ist modern geworden, gegen die Gemeinsamkeit der europäischen Staaten zu sein.
Man konnte den Eindruck gewinnen, dass die EU-Gegner nicht nur die Lufthoheit über den Stammtischen erobert hätten, sondern den öffentlichen Diskurs dominierten. Fürsprecher der EU traten seit Langem kaum auf: Weder Politiker noch die meisten Medien scheinen bereit zu sein, offen für die Errungenschaften der Union einzutreten.
Dabei haben gerade einige der jüngsten Wahlgänge gezeigt, dass die Nationalisten mit ihrem Anti-EU-Kurs zwar Stimmen gewinnen, aber keine Mehrheiten finden.
Seit wenigen Wochen scheint sich der Wind zu drehen. In vielen Städten Westeuropas demonstrieren Zigtausende Menschen unter dem Titel „Pulse of Europe“gegen den Nationalismus und für die gemeinsamen Werte Europas. Sie richteten sich zum Beispiel vor der Wahl in den Niederlanden gegen die EU-Austrittsträu- me des Rechtspopulisten Geert Wilders und vor Kurzem wieder gegen die rechtsextreme Politik der Front National in Frankreich.
Doch der Gedanke der europäischen Einigung hat kürzlich in einigen Staaten Osteuropas eine zusätzliche Bedeutung erlangt. In Ungarn, in Rumänien und in Serbien protestieren vor allem junge Menschen gegen autoritäre Entwicklungen in ihren Regierungen mit dem Ruf nach den Werten Europas: Sie fordern Demokratie, Transparenz, Menschenrechte und Freundschaft zwischen den Völkern.
Die zornigen Demonstranten in Budapest, Bukarest und Belgrad hoffen auf die Europäische Union und schwenken die Europafahne. Damit wird die europäische Einigung zum Kristallisationspunkt demokratischer Ideen in der innenpolitischen Auseinandersetzung in einzelnen Staaten. Endlich einmal eine positive Entwicklung!