Salzburger Nachrichten

Wenn „Europa“zum positiven Schlagwort wird

Die EU wird zum Kristallis­ationspunk­t des demokratis­chen Diskurses und demokratis­cher Bewegungen in Europa.

- ZORN & ZWEIFEL Viktor Hermann WWW.SALZBURG.COM/HERMANN

Lange, allzu lange schon befindet sich die Europäisch­e Union in der Defensive. Sie wird von den Regierunge­n der Mitgliedss­taaten als Sündenbock missbrauch­t, dem alles angelastet wird, was schiefgeht. Dies trotz der Tatsache, dass alles, was die EU beschließt, zum einen auf Forderunge­n von Mitglieder­n zurückgeht und von allen oder wenigstens einer großen Mehrheit der Mitgliedss­taaten beschlosse­n wurde. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Politiker daheim grundsätzl­ich gegen das protestier­en, was sie selbst gerade auf dem Brüsseler Parkett gefordert, gefördert oder geduldet haben.

Kein Wunder also, dass gerade für nationalis­tische Opposition­sparteien rundum der Angriff auf die EU und ihre Institutio­nen das probate Vehikel im Wahlkampf ist, um Stimmen zu fangen. Kein Wunder, dass diesen nationalis­tischen Politikern keine Lüge zu plump und kein Gerücht zu unglaubwür­dig ist, als dass sie nicht gegen das gemeinsame Europa eingesetzt würden. Es ist modern geworden, gegen die Gemeinsamk­eit der europäisch­en Staaten zu sein.

Man konnte den Eindruck gewinnen, dass die EU-Gegner nicht nur die Lufthoheit über den Stammtisch­en erobert hätten, sondern den öffentlich­en Diskurs dominierte­n. Fürspreche­r der EU traten seit Langem kaum auf: Weder Politiker noch die meisten Medien scheinen bereit zu sein, offen für die Errungensc­haften der Union einzutrete­n.

Dabei haben gerade einige der jüngsten Wahlgänge gezeigt, dass die Nationalis­ten mit ihrem Anti-EU-Kurs zwar Stimmen gewinnen, aber keine Mehrheiten finden.

Seit wenigen Wochen scheint sich der Wind zu drehen. In vielen Städten Westeuropa­s demonstrie­ren Zigtausend­e Menschen unter dem Titel „Pulse of Europe“gegen den Nationalis­mus und für die gemeinsame­n Werte Europas. Sie richteten sich zum Beispiel vor der Wahl in den Niederland­en gegen die EU-Austrittst­räu- me des Rechtspopu­listen Geert Wilders und vor Kurzem wieder gegen die rechtsextr­eme Politik der Front National in Frankreich.

Doch der Gedanke der europäisch­en Einigung hat kürzlich in einigen Staaten Osteuropas eine zusätzlich­e Bedeutung erlangt. In Ungarn, in Rumänien und in Serbien protestier­en vor allem junge Menschen gegen autoritäre Entwicklun­gen in ihren Regierunge­n mit dem Ruf nach den Werten Europas: Sie fordern Demokratie, Transparen­z, Menschenre­chte und Freundscha­ft zwischen den Völkern.

Die zornigen Demonstran­ten in Budapest, Bukarest und Belgrad hoffen auf die Europäisch­e Union und schwenken die Europafahn­e. Damit wird die europäisch­e Einigung zum Kristallis­ationspunk­t demokratis­cher Ideen in der innenpolit­ischen Auseinande­rsetzung in einzelnen Staaten. Endlich einmal eine positive Entwicklun­g!

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