Kino als Seismograf von Europa
SN: Sie haben „Crossing Europe“eine „Liebeserklärung an Europa“genannt. Dollhofer: Ich will ein Gegengewicht zum Europa-Bashing schaffen, zu Entwicklungen wie der Angst vor dem Fremden, Nationalismus, Populismus, Brexit. Das politische Europa ist ein Friedensprojekt, und auch wenn die EU in vielen Punkten zu kritisieren ist, ist mir beim Festival das Verbindende wichtig, die kulturelle Vielfalt und auch, was uns von Hollywood unterscheidet: die innovativen Ansätze, die reiche Kulturgeschichte. Und mir ist Solidarität wichtig: Uns geht es gut, aber wir müssen uns auch um die kümmern, denen es nicht so gut geht. SN: Welche großen Themen ziehen sich durch 14 Jahre Festivalgeschichte? Wir haben ja 2004 begonnen, noch vor der Bankenkrise. In deren Folge gab es massive gesellschaftliche Umbrüche, Jugendarbeitslosigkeit, Flucht, Migration, auch Abstiegsängste der Mittelschicht. Es sind oft Geschichten von den Verlierern, ob durch eine Austeritätspolitik oder einen Systemwechsel von Kommunismus zu Kapitalismus, die sich in den Filmen wiederfinden. Und es ist zu beobachten, wie sich die Rechts-links-Landkarte in Europa verschiebt, denken Sie etwa an Spanien, das lang unter Franco gelitten hat und wo jetzt Bewegungen wie Podemos aufbrechen. SN: Ahnt das Kino da auch Dinge voraus? Dokumentarfilme können viel schneller reagieren, bei einem Spielfilm dauert es von Idee bis Fertigstellung zwei bis fünf Jahre. Aber viele Entwicklungen kündigen sich an, und das Sensorium der Kreativen ist durch ihre Umwelt geprägt. Ich bin oft überrascht, wie aktuell Filme sind, die schon lange in der Entwicklung waren. „Das ist unser Land“beruht auf einem Roman von 2011, und die Mechanismen des Front National sind nicht neu. Aber durch die Präsidentschaftswahlen ist der Film hochaktuell.