Die EU taumelt von Krise zu Krise
Ohne Rückhalt der nationalen Politiker verliert die EU ihre Handlungsfähigkeit.
Kommen bei den Wahlen in Frankreich und Italien, zwei EU-Gründungsstaaten, die EUund Eurogegner an die Macht? Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird am 7. Mai der unabhängige und europafreundliche Emmanuel Macron und nicht die nationalistische und EU-feindliche Marine Le Pen Frankreichs nächster Präsident. Doch damit ist die Sache nicht ausgestanden. Entscheidend ist, wer die Parlamentswahlen im Juni gewinnt und wie die künftige Regierung zusammengesetzt ist.
Ähnliches gilt für Italien. Politikbeobachter halten es nicht mehr für ausgeschlossen, dass nach den Wahlen im Frühjahr 2018 der Politclown Beppe Grillo und seine 5-Sterne-Bewegung gemeinsam mit der national-rechtspopulistischen Lega Nord eine Koalition bilden, beide Gegner von EU und Euro. Turbulenzen auf den Finanzmärkten sind dann nicht auszuschließen, angesichts der angeschlagenen italienischen Banken eine brandgefährliche Situation. Zwar ist die Eurozone heute krisenfester als in der Finanzkrise, doch eine Bankenkrise in Italien wäre schwer zu stemmen.
Der Brexit kommt und es wird ein „Hard Brexit“. Auch wenn die Briten es noch nicht glauben, ihre Wirtschaft wird leiden. Schadenfreude ist allerdings nicht angebracht, auch die EU wird nicht ungeschoren davonkommen, denn Großbritannien ist oder war ein großes, militärisch starkes und weltweit ein- flussreiches Mitgliedsland. Das politisch größte Problem ist jedoch, ob die EU-Mitglieder die derzeit demonstrierte Einigkeit in Sachen Brexit über die gesamte Verhandlungsdauer durchhalten. Wenn nicht, kann das der Anfang vom Ende der EU sein. Gruppenbildung in der EU, mangelnde Solidarität und zunehmender Nationalismus: Nord gegen Süd, alte versus neue Mitglieder, Euro- gegen Nichteurostaaten – das sind die neuen Fragmentierungsmuster, die die Entscheidungsfindung immer schwieriger machen. Die Entsolidarisierung schreitet voran, siehe Ungarn oder Polen. Die Politik von Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński widerspricht nicht nur in vielen Belangen den Grundsätzen der Unionsverträge (z. B. Unabhängigkeit der Richter in Polen), sie ist auch von Alleingängen und regierungsgesteuerten Anti-EU-Kampagnen geprägt.
Der Aufstieg von Populisten und Nationalisten in der EU schreitet voran, in einem Viertel der Mitgliedsstaaten sitzen sie in der Regierung. Das hat vielfältige Gründe: Globalisierung, die Finanz- und die Flüchtlingskrise, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Niedergang. Der größte Feind der EU ist jedoch die Weigerung vieler nationaler Regierungen, sich zu Europa zu bekennen und zu Hause zu vertreten, was sie in Brüssel beschlossen haben. Ohne diesen Rückhalt verliert die EU ihre Reformund Handlungsfähigkeit. Das wäre langfristig das Ende eines gemeinsamen Europa. Marianne Kager war fast 20 Jahre lang Chefökonomin der Bank Austria. Heute ist sie selbstständige Beraterin. WWW.SALZBURG.COM/KAGER