Kinder brauchen Grenzen
„Rotzlöffel“-Debatte: Wer ist schuld, dass es immer mehr Konflikte in Kindergärten gibt? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Sicher ist: Väter und Mütter sind heute oft überfordert.
Viele Kinder kennen keine Grenzen mehr, zeigen keinerlei Respekt und schrecken auch nicht davor zurück, Erzieherinnen zu kratzen und zu beißen: Mit ihrem Buch über die „Rotzlöffel-Republik“haben zwei deutsche Kindergartenpädagoginnen heftige Diskussionen ausgelöst – die SN berichteten.
In der Frage, wer dafür verantwortlich ist, gehen die Meinungen jedoch auseinander.
Fragt man Kindergartenpädagoginnen, hört man, die Eltern seien immer öfter überfordert mit der Erziehung. Die Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits dagegen betont, nicht Kinder seien die „Tyrannen“. Vielmehr müsse das Personal in den Kindergärten umdenken und sich auf die neuen Verhältnisse einstellen (siehe Interview unten).
In einem Punkt herrscht weitgehend Einigkeit: Viele Eltern sind heute verunsichert, was die Erziehung betrifft. Entsprechend schwer tun sie sich beim Setzen von Grenzen. Das stellen auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Beratungseinrichtungen fest.
Junge Eltern würden heute dazu tendieren, sofort nachzugeben, wenn Kinder einmal schreien und toben, sagt die Psychologin Margit Firlei von der Elternberatung des Landes Salzburg. „Wenn die Kinder schreien, probieren die Eltern dann abzulenken. Das nützt aber nichts.“Oft versuchten Erwachsene, ihren Söhnen und Töchtern eine perfekte Welt ohne Frusterlebnisse zu bieten. Firlei: „So lernen die Kinder aber nicht, mit Frust, Langeweile und schlechten Gefühlen umzugehen.“Doch genau solche Erfahrungen bräuchten Kinder. Ebenso müssten Konflikte ausgetragen werden. Das sei wichtig für die kindliche Entwicklung.
Oft fehlt jungen Müttern und Vätern allerdings das nötige Wissen rund um Erziehungsfragen. Das zeigt sich auch in der steigenden Nachfrage nach Expertenrat. Die Zahl der psychologischen Beratungen und auch der Beratungen durch Hebammen und Krankenschwestern stieg bei der Familienberatung Salzburg binnen zwei Jahren um 20 Prozent. „Wenn wir einen Kurs anbieten, ist der sofort ausgebucht“, sagt Firlei.
Auch die Salzburger Kinderpsychologin Monika Aichhorn stellt fest, dass Eltern zu Hause oft versuchen, ihren Kindern sämtliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen. „So lernen die Kinder keine Frustrationstoleranz. Sie halten es nicht aus, dass sie ein Bedürfnis ein bisschen aufschieben müssen.“Selbst wenn das zu Hause gut geht: Spätestens in der Gruppe bekommt das derart „verhätschelte“Kind Probleme. Denn: „Im Kindergarten und in der Schule kann sich das Personal nicht um alle gleichzeitig kümmern“, sagt Aichhorn.
Dabei spielt auch die geänderte Familienstruktur eine Rolle. Früher wuchsen Kinder meist in der Großfamilie auf. Dort mussten sie lernen, Rücksicht auf die anderen zu nehmen. Einzelkindern fehlt heute diese Erfahrung im größeren Familienverband. Dazu komme, dass Alleinerzieherinnen mitunter gar nicht die Zeit hätten, den Kindern Grenzen zu setzen, sagt Aichhorn. Andererseits seien auch manche Erzieher/-innen und Lehrer/-innen im Umgang mit Kindern intoleranter geworden.
Wie also kann Erziehung heute gelingen?
Ratgeberliteratur gibt es zuhauf. Der Tübinger Religionspädagoge Albert Biesinger und die Entwicklungspsychologin Julia Biesinger legen in ihrem jüngsten Buch den Fokus auf „Grundvertrauen und Orientierung“. Eltern sollten den Kindern demnach vor allem Stabilität und Verlässlichkeit bieten. Väter und Mütter müssten „Leitfiguren“sein und sollten nicht so tun, als wären sie Freundinnen oder Freunde. „Man muss Kindern auch Grenzen setzen“, sagt Albert Biesinger. Es brauche „glasklare“Vorgaben. Also: Man isst nicht mit den Füßen, man beißt Mama nicht. Wenn es zu Konflikten komme, müssten diese bearbeitet und besprochen werden – auch wenn das mühsam sei. „Erziehung darf ruhig auch anstrengend sein.“