„Der Präsident hat nur Gutes getan“
Venezuela ist heruntergewirtschaftet. Das Land steht vor dem Bankrott. Seit Wochen demonstriert die Opposition. Warum sich Präsident Nicolás Maduro trotzdem noch im Amt halten kann.
Als der Polizeihubschrauber bedrohlich tief über der Menschenmenge in der Luft stehen bleibt, verliert Juan Pérez für einen Moment die Fassung. „Verschwindet, ihr Hurensöhne“, ruft der 45-jährige Angestellte und reckt den ausgestreckten Mittelfinger in die Höhe. Tausendfach wiederholt sich die Geste an diesem Nachmittag auf der Stadtautobahn von Caracas. Andere halten dem Helikopter die venezolanische Flagge entgegen, als wollten sie sagen: Wir sind die Patrioten, nicht ihr. Männer, Frauen, alt und jung, fluchen, pfeifen und beleidigen. Dann dreht der Helikopter ab.
Ein paar Hundert Meter weiter vorn liefern sich Jugendliche aussichtslose Gefechte mit Panzerwagen und hochgerüsteten Polizisten und Nationalgardisten. Sie werfen Steine und bekommen Tränengasbomben als Antwort. Alle paar Minuten prescht ein Motorrad mit Sanitätern durch die Menge. Auf dem Sozius kauern Blutende, Bewusstlose und Verletzte aus der ersten Reihe. Es ist Tag 40 der Protestwelle gegen die autoritäre Regierung von Nicolás Maduro. Und es ist irgendwie „business as usual“in diesen aufgewühlten und wütenden Wochen in Venezuela.
Jeden zweiten Tag wird gegen Maduro aufmarschiert. Einmal sind es die Studenten, dann die Frauen, dann wieder alle. Balance halten und Intensität dosieren ist die Devise, damit die Ermüdung nicht so schnell eintritt.
„Zur Verteidigung unserer Verfassung“lautete das Motto der Demo an diesem Tag. Es richtete sich gegen eine verfassunggebende Versammlung, mit der die Regierung das südamerikanische Land zu einem sozialistischen Staat umbauen will. Die „Constituyente“ist der jüngste Schachzug, um die demokratischen Spielräume einzuengen und die Opposition auszuschalten.
In ganz Venezuela gehen Menschen mit Flaggen, in weißen T-Shirts, aber auch mit Helmen, Atemschutzmasken und manchmal Pflastersteinen und Molotow-Cocktails auf die Straße. „No más represión“, steht auf einem Spruchband in Caracas. Keine Unterdrückung mehr. Aber dieser bisher letzte Protesttag am Mittwoch war besonders gewalttätig. Im Viertel Las Mercedes stirbt ein 27-Jähriger durch ein Polizeigeschoss, rund 100 Menschen werden verletzt. „Wieder ein Toter dank deines krankhaften Machtbedürfnisses, Nicolás Maduro“, schrieb Oppositionsführer Henrique Capriles über Twitter. 41 Tote gibt es bisher.
Für Juan Pérez war es erst die vierte Demo in den fast sechs Wochen, die der Aufstand in Venezuela schon dauert. Pérez nahm Frau und Kinder mit, alle mit Baseballmütze in den Farben der venezolanischen Flagge. „Wir sind hier, weil wir reden und fragen wollen, was dieser Quatsch mit der Constituyente soll. Und die schießen einfach mit Tränengas auf uns“, sagt er ungläubig. „Das ist doch keine Demokratie mehr, Maduro kann doch nicht einfach durchsetzen, was er will.“
Für die Führer des Oppositionsbündnisses MUD ist nach Jahren der Auseinandersetzung mit der Regierung der entscheidende Moment gekommen. „Nie haben wir so eine Unterstützung wie heute gehabt. 80 Prozent der Venezolaner wollen einen Richtungswechsel, und selbst die Menschen aus den Regierungshochburgen sind auf der Straße“, sagt Capriles, der jeweils ein Mal gegen Hugo Chávez und ein Mal gegen Maduro die Präsidentenwahl verlor.
Für Regierung und Opposition geht es um die Zukunft des Landes, die beide Seiten durch die jeweils andere zerstört sehen. Seine Gegner sagen, Maduro plane die Abschaffung der repräsentativen Demokratie. Die Regierung sagt, die Opposition wolle den Präsidenten mithilfe externer Mächte stürzen.
Doch die Opposition hat keine Waffen, sie setzt auf eine prinzipiell friedliche Lösung, auch wenn es laut Experten zunehmend gewaltbereite und aus dem Ausland unterstützte Kräfte gibt. Aber offiziell will die MUD vor allem Präsidentschaftswahlen, einen humanitären Korridor zur Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, die Freilassung der politischen Gefangenen und Respekt für das von der Opposition dominierte Parlament.
Wie aber kann sich der ehemalige Busfahrer Maduro, den Hugo Chávez vor seinem Tod vor vier Jahren per Fingerzeig zum Nachfolger berufen hatte, noch im Amt halten? Angesichts galoppierender Geldentwertung, fehlender oder dramatisch teurer Lebensmittel, Gesundheitsnotstand und einer zum Zerreißen polarisierten Gesellschaft?
Die Antwort findet sich an mehreren Orten: Zum einen im Geschäftsviertel Chachao von Caracas. Während auf der nahen Verkehrsachse die Tränengasbomben fliegen, sitzen Geschäftsleute und Sekretärinnen beim Mittagstisch und plaudern über das neue iPhone. Umfragen zufolge will zwar fast jeder Venezolaner einen Regierungswechsel, aber nur 34 Prozent identifizieren sich mit der Opposition. Einem Drittel sind weder Maduro noch seine Gegner geheuer.
Wer wissen will, warum sich Maduro noch hält, muss auch Menschen wie Aura Castro besuchen. Die 60 Jahre alte ehemalige Schneiderin wohnt in einer Blechhütte an einem Abhang in Nuevo Horizonte, einem Armenviertel am Rand von Caracas. Es ist eine Gegend, wo man auch tagsüber Zeuge eines tödlichen Raubüberfalls auf offener Straße werden kann. Aura Castro ist eine schmale Frau mit Zopf und einem gewinnenden Lächeln. Aber wenn es um Nicolás Maduro geht, wird sie sehr entschieden. „Natürlich verteidige ich ihn“, betont sie. Chávez und Maduro hätten ihr nur Gutes gebracht. Sie bittet den Besucher auf einen schwarzen Sessel in dem Wohnraum, der kaum größer als drei Quadratmeter ist. Küche und Schlaftrakt sind durch Vorhänge getrennt. „Aber wir haben Wasser, Strom, alles dank der Revolution.“Und bald bekomme sie auch eine neue, würdige Bleibe, wo sie nicht Gefahr laufe, samt Neffen und den beiden Enkeln beim nächsten Regenguss den Abhang hinabgespült zu werden.
Wenn Menschen wie Castro von der Revolution reden, dann meinen sie die Zeit seit 1999, als Hugo Chávez an die Macht kam und das Land mit Sozialprogrammen, sogenannten Missionen, überzog: Projekte im Gesundheits-, Bau- und Bildungssektor, eine Art paralleler Sozialstaat.
Aura Castro zeigt stolz eine kleine Karte mit Chip und Maestro-Zeichen. Es ist die Karte für die „Hogares de la Patria“, die patriotischen Haushalte. Damit können Bedürftige bei der Staatsbank monatlich 70.000 Bolívares abheben. Wenn man bedenkt, dass ein Liter Milch auf dem Schwarzmarkt bis zu 3500 Bolívares kosten kann, ist es nicht viel. Aber diese Sozialleistungen sind die Basis, auf die Maduro noch seine Zustimmung baut. 600.000 Familien sind in das Programm eingeschrieben.
Der Politologe Nicmer Evans muss bitter lächeln, wenn er die Geschichte von Aura Castro hört. „Das ist alles, was Maduro geblieben ist“, meint er. „Zwölf bis 20 Prozent der Bevölkerung stehen hinter ihm, weil sie von seinen sozialen Wohltaten abhängig sind.“Doch diese Basis schmelze ab, sagt der 41-Jährige. Er bekleidete unter Chávez einen hohen Posten im Bildungsministerium. Wie so viele hält er Maduro für einen Scharlatan auf dem Weg zu einem Diktator. Venezuela stünden schwierige Wochen bevor. „Es wir mehr Gewalt, mehr Polarisierung und mehr Repression geben“. Und einen Bürgerkrieg ausschließen will in diesen Tagen niemand.
„Bis zu 20 Prozent sind von den sozialen Wohltaten der Regierung abhängig.“