Komm mit uns, verschwende deine Zeit
Seit 25 Jahren schreibe ich für diese Zeitung. Ich wollte, das ließe mich ungerührt. Aber die Erinnerungen kommen mächtig.
Zur Sicherheit vorweg: Es könnte jetzt ein bisserl rührselig werden. Ob ich schnell Zeit für den Herausgeber hätte, wurde ich gefragt, bloß ein paar Minuten. Und dann ging’s um 25 Jahre. So lange schreibe ich für diese Zeitung, und hätte mich keiner erinnert, ich hätt’s vergessen. Und als ich weiterschreiben wollte nach dem Gespräch, kam auch noch der Campino, der ist Sänger bei den Toten Hosen und als solcher Begleiter seit . . . shit, seit 35 Jahren. Jetzt haben die ein neues Album. Und Campino gibt dazu den SN ein Interview. Zwei, drei Mal habe ich das schon gemacht. Soll wer anderer machen, denke ich. Über die Hosen schrieb ich oft. Wahrscheinlich habe ich nur über Dylan öfter geschrieben, weil der ist noch länger da als die Hosen. Mit Campino und einer Handvoll alter Songs, die Tage wie diese zur Party früherer Emotionen machen, wurde die Frage übermächtig nach der Zeit und was mit ihr passiert ist – und was mit uns in ihr passiert. Eh nichts. Eher ist es das Gefühl für Zeiträume, das sich änderte. Diese gefühlte Zeit ist ein schlimmer Betrüger. Das erste größere Interview. Der erste Leitartikel. Das erste Mal bei so vielen Sachen. Bilder von einst kommen ungefragt daher. Und ich wäre gern cooler, abgeklärter. Aber wenn ich erinnert werde, beginnt die innere Zeitmaschine zu dampfen.
Da taucht dann aus Urzeiten des Lebens auch noch ein Hosen-Song auf: „Komm mit uns, verschwende deine Zeit“. Unmöglich. Oder? Verschwendung verkommt im Lauf des Lebens zum Schimpfwort. Es steht auch auf der Liste der geächteten Wörter in einer Epoche der Effizienz. Alles wird getaktet. Alles braucht eine Timeline. Erinnerungen lassen sich so aber nicht fesseln. Sie haben ein Eigenleben, spüren sich je nach Lage immer neu an, egal wie alt sie sind. „Komm mit uns, verschwende deine Zeit“, singt Campino. Das ist kein herausragender Song. Simpel, aber durchschlagskräftig, wie sich das für Punkrock gehört, wie sich das Leben eben genau in diesem einen Moment anfühlt. Gestern und Morgen verschwinden. Dazwischen liegt keine Wahr- heit, aber dieses Dazwischen bleibt doch die einzige Möglichkeit, das Schöne, Aufregende, das Tiefgefühlte zu erleben. Vorher ist schon vorbei. Und von später haben wir keine Ahnung. Nur ein Moment. Nur ein Augenblick. Und immer, immer das erste Mal. Kinder haben’s da gut. Die können das. Die spüren Dauer und Länge und Intensität im Ganzen, wo die Großen nur mehr in Bruchteilen rechnen.
Ich hörte einmal von Studien über die Motivation, warum Menschen reisen oder Urlaub machen. Da geht’s unter anderem darum, sich in unbekannte Situationen zu wagen. Das nämlich verlängert einem die Freude. Oder anders: Gefühlt erlebt man solche Situationen länger und intensiver als das Gewohnte, das Bekannte. Immer das erste Mal. Das wär’s. Und sich dann immer voller Überzeugung verschwenderisch in dieses erste Mal stürzen, bevor die Erinnerung die Macht übernimmt und ein Vierteljahrhundert einem vorkommt wie ein Tag.