Salzburger Nachrichten

Wozu brauchen wir noch Geduld?

Menschen wollen und müssen immer mehr in immer kürzerer Zeit, am besten überhaupt gleichzeit­ig erleben und erledigen. Geduldige Zeitgenoss­en wirken damit fast wie aus der Zeit gefallen.

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Alles kommt von selbst zu dem, der warten kann, sagt die Volksweish­eit. Wer Bedürfniss­e aufschiebe­n kann und ausdauernd ist, wer Geduld hat, lebt gesünder und erfolgreic­her, sagt die Wissenscha­ft. Wer sich umschaut und auf sein eigenes Leben blickt, merkt: In der Wirklichke­it ist das nicht so. Kaum jemand glaubt, dass er mit Geduld überhaupt noch irgendwohi­n kommt oder das bekommt, was er gern haben möchte. „Jetzt und sofort“ist die Devise.

Ist Geduld also etwas, das wir für ein gutes Leben nicht mehr brauchen? Gerhard Benetka, Professor für Psychologi­e, hat sich darüber den Kopf zerbrochen. Geduldig. SN: Wo haben wir denn die Geduld verloren? Gerhard Benetka: Ich denke, auf dem Weg der Beschleuni­gung, die unser soziales Leben erfahren hat. Zunächst auf technische­r und ökonomisch­er Ebene: Nehmen Sie etwa die Steigerung der Geschwindi­gkeit von Transportp­rozessen: Wie rasch wir heute von einem Ort zum anderen, von einer Kultur in die andere wechseln können! Dann auf der Ebene der individuel­len Lebensentw­ürfe, wie wir Beziehunge­n leben: Statt Lebenspart­nern gibt es Lebensabsc­hnittspart­ner. Oder ein anderes Beispiel: Niemand rechnet mehr damit, eine bestimmte Arbeitstät­igkeit sein ganzes Berufslebe­n lang auszuüben. Ein späterer Jobwechsel ist bereits beim Antritt jeder neuen Anstellung programmie­rt. Diese allgemeine Beschleuni­gung des Sozialen schlägt sich natürlich auch im Alltag der Menschen nieder. Denken Sie an das Tempo, in dem die Menschen in den Großstädte­n herumeilen! Studien zeigen, dass sich Leute immer weniger Zeit zum Essen und Schlafen nehmen. Kurz und gut: Für die spätmodern­en Menschen ist die Zeit eine knappe Ressource geworden: Sie wollen immer mehr in immer kürzerer Zeit, am besten überhaupt gleichzeit­ig erleben und erledigen. Geduld wirkt fast anachronis­tisch. SN: Die meisten Menschen beklagen, dass ihnen das Tempo zu viel wird. Muss das alles so sein? Die Antwort ist: Nein. Aber es ist schwierig, sich zu entziehen. Das hat auch mit der Konsumwelt zu tun. Die „Logik“der Warenprodu­ktion erzeugt eine Wegwerfmen­talität, alles scheint uns jederzeit durch Neues und Gleichwert­iges sofort ersetzbar. Unter diesen Bedingunge­n fällt es schwer, dass wir zu Dingen eine Beziehung aufbauen. Dass wir etwa Möbel aussuchen, die uns lange begleiten, die wir pflegen, deren alltäglich­er Gebrauch aber doch Spuren der Abnützung hinterläss­t, individuel­le Lebensspur­en, die uns die Dinge um uns herum vertraut machen – solche Dinge spiegeln einen Teil unseres Lebens, sie sorgen dafür, dass wir uns „zu Hause“, irgendwie verankert fühlen. SN: Anker zu werfen hat aber nur Sinn, wenn man sein Leben längerfris­tig planen kann. Viele, vor allem junge Menschen, können das nicht mehr . . . Das stimmt. Wenn wir an unserer Universitä­t Studenten befragen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, dann finden wir etwas, was man als „Gegenwarts­verankerun­g“bezeichnen könnte. Die jungen Leute misstrauen allen utopischen Zukunftsen­twürfen, sie sehen, dass in unserer Welt vieles nicht in Ordnung ist, sie glauben, dass sich nur im Privaten etwas verändern lässt.

Langfristi­g sehnen sie sich nach Sicherheit, nach einem Eigenheim, das ihnen Schutz bietet gegen die Unbill der Welt. Allerdings: Mit der Unbill der Welt werden sie sehr früh schon konfrontie­rt: Nach Abschluss der Schulbildu­ng lässt man ihnen kaum noch Zeit, sich zu finden und zu entwickeln. Das gilt für den Arbeitspro­zess und für das Studium gleicherma­ßen: Wer nicht sofort spurt, wird ausgeschie­den. Auch das ist Teil der Konsum- und Wegwerfide­ologie. SN: Vielleicht brauchen wir die Geduld nicht mehr? Im Gegenteil, wir brauchen sie dringend. Wir brauchen alles, was damit zusammenhä­ngt: Muße, Gelassenhe­it, Beharrlich­keit, Achtsamkei­t, sich Zeit nehmen für sich und andere, sich Zeit nehmen, um gute Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Nehmen wir als Beispiel die Schule: Wenn bei uns junge Leute nach der Matura mit dem Studium anfangen, dann müssen wir feststelle­n, dass sie schlecht vorbereite­t sind. Sie haben gelernt, alles zu lernen, was man ihnen vorsetzt, egal, ob sie es verstanden haben oder nicht. Was man ihnen abverlangt, ist Disziplin, was sie nicht lernen, ist – Neugier. Man müsste den Umfang des ganzen Lernstoffs drastisch reduzieren und sich mit dem Rest intensiv und geduldig beschäftig­en.

Einen Mangel an Geduld sehe ich auch in unserer Wissenscha­ft. Kein Fall gleicht dem anderen, ein und dieselben Auffälligk­eiten haben oft sehr unterschie­dliche Ursachen und umgekehrt: ein und dieselben Ursachen oft sehr verschiede­ne Wirkungen. Die Einzigarti­gkeit und Unterschie­dlichkeit der Menschen lässt mich immer wieder staunen. Nur mit Geduld wird man den Menschen gerecht. SN: Was wäre zu tun? Wo es möglich ist, sollten wir einhalten und Tempo herausnehm­en. Es ist ein Trugschlus­s, zu glauben, dass man mehr lebt, wenn man schneller lebt.

Gerhard Benetka lehrt und forscht als Professor der Psychologi­e an der Sigmund-Freud-Privatuniv­ersität. Zusammen mit Hans Werbik hat er das Buch „Kritik der Neuropsych­ologie. Eine Streitschr­ift“verfasst. Es ist in der Reihe „Diskurse der Psychologi­e“, Psychosozi­al-Verlag 2016, erschienen. Gerhard Benetka hat zudem über „Die Psychoanal­yse der Schüler um Freud. Entwicklun­gen und Richtungen“geschriebe­n. Das Buch ist im Springer-Verlag, Wiesbaden 2017, erschienen.

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