„Ich bin eine lebende Klangsäule“
Melodien der Landschaft. Johanna Doderer war ein wildes Kind. Sie reitet noch immer gerne und klettert voller Leidenschaft. Vor allem aber ist sie von Musik besessen und profilierte sich in einer männerdominierten Berufung: als Komponistin.
Treffpunkt: Café Engländer in Wien. Die Zeit ist knapp, das Programm der nächsten Wochen dicht. Wie eine Löwin schüttelt Johanna Doderer die gelockte Mähne und sucht im handgeschriebenen Kalender nach dem richtigen Datum: „Uraufführung, Uraufführung“, murmelt sie, und dann hat die Komponistin und Großnichte des Schriftstellers Heimito von Doderer die Seite gefunden: Für das International Chamber Festival Utrecht am 28. Juni ist sie eingeladen, die hochkarätig besetzte Veranstaltungsreihe mit einem Auftragswerk für die Cellistin Harriet Krijgh zu eröffnen. Doch das ist nur ein Projekt unter vielen. Zurzeit bereitet sie sich auf einen ganztägigen, vom ORF mitgeschnittenen Event auf Schloss Walpersdorf (22. Juli) vor, der ihren Kompositionen gewidmet ist. Motto: „Die Musik ist mein Leben“. Außerdem arbeitet sie intensiv an einer neuen Oper für das Münchner „Staatstheater am Gärtnerplatz“. Das Libretto schreibt Peter Turrini, das Sujet ist noch streng geheim.
Wie ein Komet ist die 48-jährige Vorarlbergerin am männlich dominierten Kompositionshimmel aufgestiegen, an dem sich bisher nur Olga Neuwirth einen großen Namen gemacht hat. Doderers Werke werden in allen großen Häusern gespielt – von Wien bis Korea. Und man glaubt ihr sofort, wenn sie sagt: „Ich lebe für die Musik und aus der Musik.“Eine Musik, die zwar zeitgenössisch, stilistisch vielfältig, aber doch auch im Tonalen, nachvollziehbar Emotionalen liegt. Die beiden Weltkriege hatten eine zerstörte Gesellschaft hinterlassen, das habe sich in einer Musik der zerfetzten Melodik und zerbrochenen Töne geäußert, meint die Komponistin. Ihre Generation hingegen sei in einer guten Zeit aufgewachsen, und in diesem Sinn entfalteten sich auch ihre Werke: „Musik kann innere Räume, die nicht greifbar und erklärbar sind, öffnen und uns auf uns selbst zurückwerfen. Dass dies gelingt, ist für mich entscheidend, egal, ob es sich um klassische oder moderne Musik, um tonale oder atonale handelt – für mich gibt es nur gute oder schlechte Musik.“
Auf die Frage, für welche Instrumente sie am liebsten komponiere, antwortet Johanna Doderer ohne Zögern: „Für Orchester, Stimme und Streichinstrumente“, und fügt hinzu: „ich freue mich so, dass die Musiker meine Kompositionen gerne interpretieren.“Das bestätigt Luca Monti, Pianist des Haydn Chamber Ensemble, für das sie kürzlich ein Auftragswerk geschrieben hat: „Ihre Musik hat Tiefe und Emotionalität. Wir Musiker spielen sie gerne. Vom Publikum wird sie geliebt. Ihre Produktivität ist unerschöpflich.“Und Peter Turrini ergänzt: „Sie komponiert Gegenwartsmusik mit Anspruch auf Schönheit und ohne musikalische Unverständlichkeit.“
Von ihren 80 Kompositionen sind viele an ihrem Rückzugsort im Weinviertel entstanden, wo die Komponistin abgeschottet von jeder Öffentlichkeit lebt. Sie brauche das für ihre Konzentration, erklärt sie, und fühle sich auch nicht einsam – im Gegenteil: „Der Brennpunkt ist für mich der Schreibtisch“, wo sie zuerst von Hand die Noten niederschreibt und dann in den Computer eingibt. „Wenn ich komponiere, bin ich ganz für mich, ganz bei mir, ohne Kompromisse. Ohne Selbstbetrug. In Klarheit. Mein Leben muss in Ordnung sein.“Rund um diesen Akt bündelt sie ihre Energie mit ihrer unbändigen Liebe zu allem, was tönt – ob sie sich nun aufs Pferd schwingt, sportlich die steile Drachenwand am Traunsee erklettert oder sich in den Bergen bewegt – nach einem Absturz im Montblanc-Gebiet in aller Vorsicht: „Überall entdecke ich die Rhythmen und Melodien der Landschaft – sie begleiten mich und inspirieren mich. Ich höre die Klänge der Steine, die Musik der Wälder. Ich schlafe sogar in den Bergen. Ich bin eine lebende Klangsäule“, sagt sie lachend. „Es fließt unentwegt aus mir heraus. Ich schreibe eine Komposition, lege sie ab, ehe ich sie mindestens noch ein Mal überarbeite und schreibe dazwischen eine andere.“Und wenn sie ein Werk mit viel Disziplin beendet hat, dann dürfen Rausch und Ekstase über sie kommen, dann fährt sie in den Wiener Prater und nimmt sich ein Ticket für den Praterturm – für Nervenkitzel durch größtmögliche Fallhöhe. So kam ihr das Angebot von Intendant Josef E. Köpplinger, für das Gärtnerplatztheater die Oper über „Liliom“, den Hutschenschleuderer aus dem Prater, zu komponieren, sehr entgegen. Auch da zeigte sie sich als Jongleuse musikalischer Diversität und verwebte verschiedene Musikstile zu einem eigenwilligen Ganzen: „Johanna Doderer schafft es, das zu einer eigenen musikalischen Sprache zu vereinen. Atonale Avantgarde ist für sie genauso Mittel wie berührend romantische Harmonieführungen“, lobte die „Süddeutsche Zeitung“diese jüngste von sechs Opern. Zuvor schon wurde „Der Leuchtende Fluss“(Libretto: Schriftsteller Wolfgang Hermann) am Gärtnerplatz uraufgeführt, mit der Kinderoper „Fatimah“(Libretto: Rafik Schami/René Zisterer) feierte sie 2013 ihr Debüt an der Wiener Staatsoper.
Der Weg zum Erfolg war mit viel Widerstand gegenüber den gesellschaftlichen Regeln gepflastert: In Dornbirn als Tochter eines Lehrerpaars mit vier Schwestern aufgewachsen, wollte Johanna Doderer sich in die alltäglichen Konventionen nicht einfügen, vor allem nicht, was die Schule betraf. „Freiheit“heißt ihr Zauberwort. Die erlebte sie in Vorarlberg in einem Haus am Berg während des Jahres und in Korsika, in den Familiensommern. Die Chöre von Korsika, die sie auch bei ihnen zu Hause singen, hinterlassen einen tiefen Eindruck; ein Bösendorfer daheim und ein Vater, der auch Cello und Gitarre spielt, lassen sie die Zwänge der Schule als etwas Unrundes, Unangenehmes erleben. „Ich war unangepasst, anstrengend und schwierig. Ich war ein wildes, freiheitsdurstiges Mädchen, hatte aber immer die Unterstützung meiner Eltern“, erinnert sie sich. Nach mehreren Schulwechseln trifft sie mit 17 die Entscheidung zu lernen, wozu sie sich berufen fühlt, studiert Klavier am Konservatorium Feldkirch, spielt sich mit Improvisationen und beginnt zu komponieren. Ihr Lehrer Gerold Amann glaubt an sie. Dann geht alles schnell. Sie lernt bei Beat Furrer in Graz, dann in Wien bei Erich Urbanner Komposition und Musiktheorie und bei Klaus-Peter Sattler Film- und Medienkomposition und verdient ihr Studium mit Klavierunterricht und Auftragswerken selbst. Für einige Jahre zieht sie nach Norwegen, der Liebe wegen, aus dieser Beziehung erwächst der inzwischen 21-jährige Sohn Patrick, der ebenfalls komponiert und sich, so wie früher die Mutter, auf der Suche nach seinem Weg befindet. Johanna Doderer hat ihn gefunden: „Die Musik will raus, und ich schreibe sie“, erzählt sie, betont aber gleich die Notwendigkeit, stets das Handwerk zu optimieren. „Ich kopiere Partituren nur für mich – um zu lernen.“
Doderers Werke sind nicht nur in internationalen Musikhäusern zu Hause, sondern auch von großen Künstlern zu hören, darunter Musikerinnen wie Patricia Kopatchinskaja und Harriet Krijgh oder Sängerinnen wie Angelika Kirchschlager und Marlis Petersen. Ihre erste Oper „Die Fremde“(das Medea-Thema) war auch ihre Diplomarbeit. Und Opern sind Johanna Doderers Schwerpunkt geblieben, umso mehr freut sie sich über die Zusammenarbeit mit Peter Turrini. Umgekehrt gerät auch er ins Schwärmen: „Johannas Musik hat mich gefangen. Und außerdem: Ich bin 73, aber nicht blind.“