In ein Städtchen dringt Gewalt
Warum und wie werden Menschen, die durch Verwandtschaft oder Freundschaft, ja selbst durch Liebe miteinander verbunden gewesen sind, einander plötzlich zu Feinden?
Die Freuden des Teufels“spielt in der für Litauen so traumatischen Zeit des Zweiten Weltkriegs, als das Land 1940 von der Sowjetunion, 1941 von Nazideutschland und 1944 wieder von der Sowjetunion okkupiert wurde. Die acht Kapitel sind aus der Sicht von sieben Personen erzählt, und es erscheint das, was aus der Perspektive einer Figur bereits bekannt ist, plötzlich in neuem Licht – oft auch im Zwielicht, denn der Erzähler des Romans ist seinen Figuren zu nahe, um die Ungewissheiten durch zu viel Wissen aufzulösen. Der Roman verwickelt seine Figuren miteinander und lässt sie aufeinanderprallen. Sie verraten, töten und helfen einander, aber vor allem bewahren sie ihr Geheimnis.
Das erste und letzte Kapitel gehört der Polin Danuta, die von ihrem jüdischen Schwiegervater, bei dem sie in großer Bedrängnis mit ihren beiden Söhnen Zuflucht suchen muss, den Namen Gadassa erhält. Sie, die in ihrer Kindheit mit französischer Gouvernante eine Träumerin und als Jugendliche eine leichtlebige Frau war, ist eine wunderliche und verwundete Frau geworden und hat als Einzige die Gnade eines natürlichen Todes. Ihr Sohn Jakob wächst als Jude auf und wird zum jüdischen Totengräber, bis er niemanden mehr begraben kann, weil kein Jude und keine Jüdin mehr eines natürlichen Todes stirbt. Als Letzte begräbt er Elischeba, seine große Liebe, die nicht als Einzige ihrer Familie gerettet werden und diese Rettung einer katholischen Taufe verdanken wollte.
Eine unvergessliche Romanfigur ist Elischebas Vater, der Schneider Gedale Bankwetscher, für den Nähen das Leben bedeutet und der seine Singer-Nähmaschine mehr liebt als alles auf der Welt. Er hat auch für den Bürgermeister einen guten Anzug geschneidert und ihn aufgehoben, als dieser während der ersten sowjetischen Okkupation fliehen musste; als er mit den Deutschen wieder ins Amt kam, hat er seinen Anzug genommen und den Schneider Bankwetscher umgehend abkommandieren lassen zur Ermordung.
Aber da ist auch noch der Bauer Česlavas Lomsargis, der Elischeba schützen und ihr eine neue, christliche, Identität ermöglichen will. Manchmal spürt man die Anziehung zwischen ihm und Elischeba und weiß nicht, ob Lomsargis nicht doch hofft, sie heiraten zu können, wenn seine deutlich ältere und ewig kränkelnde Frau Pranė, der er seinen Besitz verdankt, einmal stirbt. Er ist ein rechtschaffener Mensch, der auch einen schwer verwundeten Soldaten der Roten Armee nicht vom Hof jagt und als Katholik zur Jüdin Elischeba sagt: „Wie du es drehst und wendest, das Leben ist wichtiger als der Glauben, sei es nun unserer oder eurer.“Der Roman nimmt die religiöse Perspektive seiner Figuren ernst, aber er zeigt ihnen die Gleichgültigkeit des Himmels angesichts der Morde und Deportationen.
Zu seiner Hochform läuft Grigori Kanowitschs Roman auf, wenn Juozas, der einstige Schüler und Schützling des Schneiders Bankwetscher, ins Bild rückt. Er schickt den Mann, dem er alles verdankt, in den Tod. Doch auch er erscheint, wie Karl-Markus Gauß in seinem Nachwort bemerkt, nicht als Bösewicht, sondern als zerquälter Zauderer; er wird als Verräter vorgeführt – und ist doch eine bemitleidenswerte Figur. Dieses Porträt eines Täters, geschaffen von einem jüdischen Autor, ist in seiner Einzigartigkeit kaum zu übertreffen.
In staunende Verwunderung stürzt einen dieser Roman manchmal durch die in einem Satz kondensierte Beschreibung einer Situation: „Die Stille glomm wie ein Zunder und drohte jede Sekunde zu explodieren.“Und da sind noch die karg geschilderten Naturidyllen, die kurz aufblitzen wie eine Gegenwelt, und dann wieder in Mord und Totschlag untergehen. In einem Rotkehlchen kann momenthaft eine Hoffnung aufkeimen, doch das letzte Wort des Romans haben andere Vögel: „die meuternden Krähen – die ewigen Nörgler an allem, was unter dem Himmel geschieht“.
Man müsste auch die Nebenfiguren erwähnen. Und man müsste darauf hinweisen, dass dieser Roman viel zur Erklärung beitragen kann, wieso Litauer und Juden, die über Jahrhunderte besser zusammengelebt haben als anderswo, durch die sowjetische und die deutsche Okkupation zu Feinden und nicht wenige Litauer zu Judenmördern geworden sind. „Die Freuden des Teufels“zeigt auf irritierende Weise, wie Menschen, die durch Verwandtschaft oder Freundschaft, ja selbst durch Liebe miteinander verbunden waren, einander plötzlich zu Feinden (gemacht) werden.
Die Übersetzung von Franziska Zwerg liest sich wunderbar flüssig. Das schön ausgestattete Buch ist nur durch zahlreiche Satzfehler beeinträchtigt. Und die litauischen Personen- und Ortsnamen sind oft mit fehlenden oder falschen diakritischen Zeichen geschrieben, manchmal auch mit Buchstaben, die es im Litauischen gar nicht gibt.
Das ist zwar ärgerlich, doch den großartigen Text kann es nicht beschädigen. Grigori Kanowitsch: „Die Freuden des Teufels“, übersetzt von Franziska Zwerg, mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauß, 224 Seiten, Corso Verlag, Wiesbaden 2017.