Salzburger Nachrichten

Kann Italien Migranten einfach durchwinke­n?

Die Rechtslage in der EU zu Asyl- und Visavergab­e ist relativ klar. Verstöße dagegen sind aber schwer zu verhindern und zu bestrafen.

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WIEN, BRÜSSEL. Man sollte die aktuellen Wortgefech­te zwischen der österreich­ischen und der italienisc­hen Regierung nicht überbewert­en, hat Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen diese Woche gemeint. „Beiden Ländern stehen Wahlen bevor“, sagte der Präsident. „Das ist selten die Zeit, wo man in aller Ruhe etwas bespricht, um zu einer Lösung zu kommen.“Am Mittwoch kalmierte dann auch Italiens Außenminis­ter Angelino Alfano – der heute nach Wien kommt – und lobte die gute Zusammenar­beit mit Österreich. Diese gelte es fortzusetz­en, um auch in Zukunft Sicherheit zu gewährleis­ten, sagte er bei einem Südtirolbe­such.

Tatsächlic­h sind die jüngsten Drohungen aus Rom, temporäre Visa für 200.000 Migranten auszustell­en, und aus Wien, Grenzkontr­ollen am Brenner einzuführe­n, zuallerers­t Wahlkampfr­hetorik. In Österreich wird Mitte Oktober ein neues Parlament gewählt, in Italien spätestens im Februar.

Doch unabhängig davon ist die Regierung in Rom unter massivem Druck, etwas gegen die steigende Zahl von Migranten zu tun, die aus Libyen über das Mittelmeer kommen. 93.292 haben seit Jahresbegi­nn die italienisc­he Küste erreicht, 17 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Flüchtling­sunterkünf­te quellen über, nicht mehr nur auf Sizilien und im Süden. Auch in Südtirol werden laut Caritas weitere Quartiere eröffnet, um neue Kapazitäte­n zu schaffen. Also wohin mit den mehrheitli­ch Wirtschaft­smigranten aus Ländern wie Nigeria, Mali und Guinea?

Sie einfach Richtung Österreich, Schweiz oder Frankreich weiterzuwi­nken, sei rechtlich kaum möglich, sagt Peter Hilpold, Experte für Völker- und Europarech­t an der Universitä­t Innsbruck. Italiens früherer Regierungs­chef Silvio Berlusconi hatte das 2011 mit rund 20.000 tunesische­n Flüchtling­en getan, indem man ihnen „Visa aus humanitäre­n Gründen“erteilte, während die Nachbarlän­der wegschaute­n. Das sei schon damals „EU-rechtlich problemati­sch“gewesen, sagt der gebürtige Südtiroler. Seither sei zudem das EU-Asyl verschärft worden und eine solche Vorgangswe­ise eindeutig ein Verstoß gegen EU-Recht. Außerdem wäre die „Missbrauch­sintention“ganz klar. Grundsätzl­ich stehe es EU-Staaten frei, Visa zu erteilen oder auch Einbürgeru­ngen vorzunehme­n, sagt Franz Leidenmühl­er, Vorstand des Instituts für Europarech­t an der Universitä­t Linz. Laut EU-Recht gelte jedoch ein „Loyalitäts­gebot“, und dagegen würde Rom mit einer solchen Visavergab­e verstoßen, sagt der Experte; auch wenn das Land gute Argumente für solche Maßnahmen hätte.

Gemutmaßt wurde in den vergangene­n Tagen, dass Italien die sogenannte EU-Massenzust­romRichtli­nie 55/2001 nutzen könnte. Gerhard Muzak, Professor für Staats- und Verwaltung­srecht an der Uni Wien, hält das, wie seine Fachkolleg­en, für unmöglich.

Die „Richtlinie über Mindestnor­men für die Gewährung vorübergeh­enden Schutzes im Falle eines Massenzust­roms Vertrieben­er“, wie sie korrekt heißt, ist eine Folge des Kriegs in Ex-Jugoslawie­n. Österreich­s Regierung hatte Anfang der 1990er-Jahre per Verordnung eine Aufenthalt­sbewilligu­ng generell für Kriegsvert­riebene beschlosse­n. Der „temporäre Schutz“kam zunächst vor allem Bosniern und später Kosovaren zugute. Auch Deutschlan­d, die Schweiz, Norwegen und die Niederland­e hatten relativ unbürokrat­isch ihre Grenzen geöffnet.

In den Folgejahre­n wurde daraus die besagte EU-Richtlinie. Sie ist bis heute aber nie zum Einsatz gekommen – auch nicht 2015, als im Zuge des Syrien-Kriegs fast eine Million Menschen über Griechenla­nd in die EU drängte. Denn um sie auszulösen, braucht es einen Beschluss (mit qualifizie­rter Mehrheit) der EUStaaten, dass es sich um einen Massenzust­rom handelt. Und der wurde und wird wegen des befürchtet­en Sogeffekts nicht gefasst. Auch handelt es sich bei den in Italien Ankommende­n meist um Arbeitsuch­ende, nicht um Vertrieben­e. Das Regelwerk sei vielleicht doch zu sehr auf die damalige Situation abgestimmt gewesen, meint Hilpold.

Folglich halten die Rechtsexpe­rten die Äußerungen aus Rom eher für ein politische­s Druckmitte­l als für konkrete Überlegung­en. Sollte Italien dennoch so weit gehen und Hundertaus­enden Migranten Visa zur Weiterreis­e ausstellen, hätten die anderen EU-Staaten wenige Möglichkei­ten dagegen. Die EUKommissi­on könnte Rom auffordern, dies zu unterlasse­n, und ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren starten. Die Nachbarlän­der wiederum könnten in Brüssel vorübergeh­end Grenzkontr­ollen beantragen, wie sie seit der Flüchtling­skrise zwischen Österreich und Bayern gelten.

Die italienisc­hen Dokumente selbst müssten an der Grenze wohl akzeptiert werden – bis sie von einem Gericht aufgehoben würden, sagt Leidenmühl­er. Rechtlich nicht ganz eindeutig ist, ob die finanziell­en Mittel der Einreisend­en geprüft werden und, sollten diese nicht ausreichen, die Betroffene­n zurückgesc­hickt werden können.

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BILD: SN/AP Die steigende Migration bringt die Regierung in Rom immer mehr unter Druck. Die wenigsten übers Mittelmeer kommenden Menschen fallen unter die Genfer Flüchtling­skonventio­n, haben also keinen Anspruch auf Asyl.

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