Der Geduldsfaden mit Erdo˘gan ist gerissen
Nach Monaten der Zurückhaltung vollzieht die deutsche Regierung eine Kehrtwende in ihrer Türkei-Politik.
Peter Steudtner war den meisten Menschen vergangene Woche noch unbekannt. Nun könnte er in die deutsch-türkische Geschichte eingehen. Er steht nicht länger nur für einen 45-jährigen Menschenrechtler aus Berlin. Er steht für einen Wendepunkt in den Beziehungen zweier Staaten. „Der Fall zeigt, dass deutsche Staatsbürger in der Türkei vor willkürlichen Verhaftungen nicht mehr sicher sind“, warnte Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) am Donnerstag. Seine Botschaft an alle Bürger: Es kann jeden treffen.
Steudtner ist einer von 22 Deutschen, die seit dem Putschversuch in der Türkei vor einem Jahr festgenommen wurden. Neun davon sitzen nach wie vor im Gefängnis. Mit dem Fall Steudtner brachte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan aber das Fass zum Überlaufen. Nach Nazibeleidigungen, nach Streitigkeiten um Besuchsverbote bei der Bundeswehr, nach Menschenrechtsverletzungen und Verhaftungen ist die Bundesregierung mit ihrer Geduld gegenüber dem zunehmend autokratisch regierenden Erdoğan am Ende. „Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher“, sagt Gabriel. Dabei dürfte er auch den Fall des deutsch-türkischen „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel im Blick haben, der seit fast einem halben Jahr in Haft sitzt.
Es klingt fast so, als wollte sich Gabriel für die Zurückhaltung in den vergangenen Monaten rechtfertigen. Man wisse schließlich um den mühsamen EU-Beitrittsprozess und die Empfindlichkeiten der türkischen Seite. Vor allem aber habe man drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln im eigenen Land. Aus diesen Gründen habe man immer wieder versucht, die Aufregung zu dämpfen, Beleidigungen hingenommen und auf Dialogbereitschaft gesetzt. „Wieder und wieder sind wir allerdings auch enttäuscht worden“, sagte Gabriel.
Steudtner nahm vor zwei Wochen als Referent an einem Menschenrechtsseminar in Istanbul teil. Deshalb sitzt er nun mit fünf weiteren Menschenrechtlern in U-Haft. Der Grund: Terrorvorwürfe. Gabriel warnt nun vor „willkürlichen Verhaftungen“und verschärft die Reisehinweise. Türkei-Reisenden wird zu „erhöhter Vorsicht“geraten.
Der Gegenangriff soll Erdoğan deutlich machen, dass eine Grenze erreicht ist. Wegen willkürlicher Enteignungen werden zudem Bürgschaften für die Absicherung von Geschäften und Exporten sowie die Wirtschaftshilfe auf den Prüfstand gestellt. Investitionskredite müssten ebenso wie EU-Vorbeitrittshilfen überdacht werden, sagte der Minister. Kanzlerin Angela Merkel stellte sich hinter Gabriel.
Auch Österreich passte seine Reisehinweise für die Türkei an. Die aktuelle Version weist – ähnlich wie in Deutschland – etwa darauf hin, dass österreichische Vertretungsbehörden in der Türkei bei Festnahmen österreichischer Staatsangehöriger nicht immer rechtzeitig informiert werden. Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) kritisierte die Verhaftungen in der Türkei als „völlig inakzeptabel“.
Der Sprecher von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, İbrahim Kalın, warf Berlin dagegen eine versuchte Einflussnahme auf die türkische Justiz vor.
„Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher.“Sigmar Gabriel, Außenminister