Ein Film wie eine raue Nordatlantikwelle
Regisseur Christopher Nolan schafft mit „Dunkirk“einen körperlich überwältigenden Film, der Krieg sinnlich erfahrbar macht.
Drei Soldaten sitzen im nassen Sand, stieren erschöpft vor sich hin. Seit Tagen warten sie auf ihre Evakuierung, sind durchweicht, hungrig, verzagt. Graue Schwaden treiben über den Strand. Ein paar Meter weiter taumelt einer Richtung Wasser, geht ohne Zögern in die Wellen. Das Wasser spült über ihn hinweg, als wäre nichts geschehen. Die Burschen schauen zu. Ihn zu hindern, dafür hat niemand mehr Kraft. Es ist eine kleine Szene von niederschmetternder Hoffnungslosigkeit, irgendwo in der Mitte von Christopher Nolans Film „Dunkirk“über die Evakuierung der 1941 bei der französischen Stadt Dunkerque von den Deutschen eingekesselten britischen Soldaten.
Es ist ein Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg: Wäre die Evakuierung nicht gelungen, wäre die britische Streitmacht so sehr geschwächt gewesen, dass ein Widerstand gegen die Deutsche Wehrmacht wahrscheinlich nicht mehr möglich gewesen wäre.
Die von England herüberkommenden großen Marineschiffe werden von deutschen U-Booten torpediert und von der Luftwaffe beschossen. Erst mithilfe Hunderter ziviler Boote gelingt es, einen Großteil der 400.000 Soldaten zu retten.
Für die Darstellung dieser verfahrenen Situation nutzt Nolan drei Ebenen: „Die Mole“handelt von den Soldaten, die eine endlose Woche lang auf ihre Rettung hoffen. „Das Meer“schildert über einen Tag hinweg, was einem einfachen Ausflugsbootsbesitzer geschieht, der über den Ärmelkanal setzen will, um möglichst viele Gestrandete heimzuholen. Und „Die Luft“erzählt eine Stunde im Kampf zweier Air-Force-Piloten, die die Angriffe der Luftwaffe auf die Männer am Strand und auf die Schiffe abzuwehren versuchen. Diese drei Zeiträume sind ineinander verschoben, als handle es sich um eine normale Parallelmontage – eine dramaturgische Spielerei zur Relativität von Zeit, die aufgreift, womit sich Nolan wieder und wieder auseinandersetzt, etwa in den verschachtelten Traumwelten von „Inception“oder den Raum-Zeit-Sprüngen von „Interstellar“. Hier sind es unterschiedliche Kriegserfahrungswelten, und es sind die letzten Sekunden in der Erzählung um den AirForce-Piloten, die am allerlängsten sind, zerdehnt bis ins fast Unerträgliche.
Am heftigsten ist der Kinofilm „Dunkirk“in der ersten Stunde, in der Nolan in den gewaltigen Bildern seines Kameramanns Hoyte van Hoytema schwelgt. Hier übermannt der Film sein Publikum wie eine raue Nordatlantikwelle, größer noch ist das Erlebnis bei IMAX-Vorführungen. Mit riesigen IMAX-Kameras wurde der Film auch aufgenommen, die der Kameramann geschultert hat, um den jungen Soldatendarstellern nah zu kommen.
Die deutschen Feinde bekommen nie ein Gesicht in „Dunkirk“, sie sind wie eine tödliche Naturgewalt, die es nur zu überleben gilt. Wofür gekämpft wird, ist in der Situation einerlei für die jungen Soldaten. Auch die Schauspieler-Identität der meisten bleibt weitgehend irrelevant, der eine Pilot wird von Tom Hardy gespielt, der Bootsbesitzer ist Mark Rylance, die Evakuierung von der Mole leitet Kenneth Branagh, einer der Soldaten ist Teeniestar Harry Styles. Dass das letztlich irrelevant ist, vermittelt, wie existenziell das Bedrohungserlebnis in „Dunkirk“ist. Erst zum Ende wird das Pathos übermächtig, als die rettenden Boote kommen und allen die Tränen in den Augen stehen.
„Dunkirk“erzählt fast ausschließlich vom Erleben am Strand und am Ärmelkanal, mit atemberaubend brillanten Bildern. Ein Glücksfall ist es, dass diesen Sommer noch ein zweiter Film im Kino läuft, der die zivile Seite dieser Zeit in Großbritannien zeigt: Lone Scherfigs „Ihre beste Stunde“über die Propagandafilmmaschinerie im Jahr 1941 ist wie ein erstaunlicher Geschwisterfilm, und eine fabelhafte Ergänzung zu „Dunkirk“. Kino: