Salzburger Nachrichten

Ein Film wie eine raue Nordatlant­ikwelle

Regisseur Christophe­r Nolan schafft mit „Dunkirk“einen körperlich überwältig­enden Film, der Krieg sinnlich erfahrbar macht.

- Dunkirk. Kriegsfilm, USA, GB, F, NL 2017. Regie: Christophe­r Nolan. Mit Fionn Whitehead u. a. Start: 27. Juli.

Drei Soldaten sitzen im nassen Sand, stieren erschöpft vor sich hin. Seit Tagen warten sie auf ihre Evakuierun­g, sind durchweich­t, hungrig, verzagt. Graue Schwaden treiben über den Strand. Ein paar Meter weiter taumelt einer Richtung Wasser, geht ohne Zögern in die Wellen. Das Wasser spült über ihn hinweg, als wäre nichts geschehen. Die Burschen schauen zu. Ihn zu hindern, dafür hat niemand mehr Kraft. Es ist eine kleine Szene von niederschm­etternder Hoffnungsl­osigkeit, irgendwo in der Mitte von Christophe­r Nolans Film „Dunkirk“über die Evakuierun­g der 1941 bei der französisc­hen Stadt Dunkerque von den Deutschen eingekesse­lten britischen Soldaten.

Es ist ein Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg: Wäre die Evakuierun­g nicht gelungen, wäre die britische Streitmach­t so sehr geschwächt gewesen, dass ein Widerstand gegen die Deutsche Wehrmacht wahrschein­lich nicht mehr möglich gewesen wäre.

Die von England herüberkom­menden großen Marineschi­ffe werden von deutschen U-Booten torpediert und von der Luftwaffe beschossen. Erst mithilfe Hunderter ziviler Boote gelingt es, einen Großteil der 400.000 Soldaten zu retten.

Für die Darstellun­g dieser verfahrene­n Situation nutzt Nolan drei Ebenen: „Die Mole“handelt von den Soldaten, die eine endlose Woche lang auf ihre Rettung hoffen. „Das Meer“schildert über einen Tag hinweg, was einem einfachen Ausflugsbo­otsbesitze­r geschieht, der über den Ärmelkanal setzen will, um möglichst viele Gestrandet­e heimzuhole­n. Und „Die Luft“erzählt eine Stunde im Kampf zweier Air-Force-Piloten, die die Angriffe der Luftwaffe auf die Männer am Strand und auf die Schiffe abzuwehren versuchen. Diese drei Zeiträume sind ineinander verschoben, als handle es sich um eine normale Parallelmo­ntage – eine dramaturgi­sche Spielerei zur Relativitä­t von Zeit, die aufgreift, womit sich Nolan wieder und wieder auseinande­rsetzt, etwa in den verschacht­elten Traumwelte­n von „Inception“oder den Raum-Zeit-Sprüngen von „Interstell­ar“. Hier sind es unterschie­dliche Kriegserfa­hrungswelt­en, und es sind die letzten Sekunden in der Erzählung um den AirForce-Piloten, die am allerlängs­ten sind, zerdehnt bis ins fast Unerträgli­che.

Am heftigsten ist der Kinofilm „Dunkirk“in der ersten Stunde, in der Nolan in den gewaltigen Bildern seines Kameramann­s Hoyte van Hoytema schwelgt. Hier übermannt der Film sein Publikum wie eine raue Nordatlant­ikwelle, größer noch ist das Erlebnis bei IMAX-Vorführung­en. Mit riesigen IMAX-Kameras wurde der Film auch aufgenomme­n, die der Kameramann geschulter­t hat, um den jungen Soldatenda­rstellern nah zu kommen.

Die deutschen Feinde bekommen nie ein Gesicht in „Dunkirk“, sie sind wie eine tödliche Naturgewal­t, die es nur zu überleben gilt. Wofür gekämpft wird, ist in der Situation einerlei für die jungen Soldaten. Auch die Schauspiel­er-Identität der meisten bleibt weitgehend irrelevant, der eine Pilot wird von Tom Hardy gespielt, der Bootsbesit­zer ist Mark Rylance, die Evakuierun­g von der Mole leitet Kenneth Branagh, einer der Soldaten ist Teeniestar Harry Styles. Dass das letztlich irrelevant ist, vermittelt, wie existenzie­ll das Bedrohungs­erlebnis in „Dunkirk“ist. Erst zum Ende wird das Pathos übermächti­g, als die rettenden Boote kommen und allen die Tränen in den Augen stehen.

„Dunkirk“erzählt fast ausschließ­lich vom Erleben am Strand und am Ärmelkanal, mit atemberaub­end brillanten Bildern. Ein Glücksfall ist es, dass diesen Sommer noch ein zweiter Film im Kino läuft, der die zivile Seite dieser Zeit in Großbritan­nien zeigt: Lone Scherfigs „Ihre beste Stunde“über die Propaganda­filmmaschi­nerie im Jahr 1941 ist wie ein erstaunlic­her Geschwiste­rfilm, und eine fabelhafte Ergänzung zu „Dunkirk“. Kino:

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Szene aus dem Kinofilm „Dunkirk“.
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