Angewandte Gefühlsforschung
Wer wissen will, wie die Nationalratswahl ausgeht, sollte sich nicht auf Umfrageergebnisse verlassen.
Der 24. April 2016 ist der Schwarze Sonntag der Meinungsforschung: Bei der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl kam Norbert Hofer auf 35 Prozent – und damit auf einen Stimmenanteil, der um mehr als die Hälfte größer war als der seines nachfolgenden Mitbewerbers Alexander Van der Bellen (21 Prozent).
Unmittelbar davor war Van der Bellen in den Umfragen noch vor Hofer gelegen. Was den Schluss nahelegt, dass diese Erhebungen nicht einmal als Momentaufnahmen taugten, die die Stimmungslage auch nur einigermaßen wiedergaben.
Das hat viele Gründe. Dieser Urnengang wird wohl auch in die Geschichte eingehen, weil er eine Zäsur für die österreichische Politik darstellt; nämlich die Auflösung (fast) jeder Parteienbindung. Dass die Präsidentschaftskandidaten der ehemaligen Großparteien SPÖ und ÖVP, Rudolf Hundstorfer und Andreas Khol, auf jeweils nur elf Prozent kamen, unterstreicht, wie beweglich die Wählerschaft geworden ist.
Auch im Hinblick auf die Nationalratswahl am 15. Oktober: Wer heute eine Umfrage durchführt, muss davon ausgehen, dass ein Teil der Befragten noch keine Präferenz äußert. Oder dies tut, es sich aber noch einmal anders überlegen wird. Weil sich ein Kandidat bei einem TV-Duell von einer bisher unbekannten Seite zeigt. Oder weil sich die Themenlage, die zurzeit auf Flüchtlinge fokussiert ist, wandelt, sodass neue Qualitäten entscheidend werden.
Vieles ist schlicht und ergreifend nicht absehbar. Umso wichtiger ist es, dass die Meinungsforschung bei dem, was sie kann, größte Sorgfalt walten lässt. Das Bemühen ist da. Seit einigen Monaten halten sich zahlreiche Institute an gewisse Standards. Sie befragen zum Beispiel mindestens 800 Personen. Das ist gut so. Doch nicht alle spielen mit. Einige begnügen sich mit 500 oder 600 Befragten.
Der Wert solcher Umfragen kann nicht gering genug geschätzt werden. Das verdeutlicht eine Faustregel des Mathematikers Erich Neuwirth: „Um halbwegs sicher sagen zu können, dass eine Partei auf Platz eins liegt, muss sie bei 1000 Befragten um sechs bis sieben Prozentpunkte vorn sein.“Das heißt im Umkehrschluss: Wer nur halb so viele Leute befragt, wird mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit weit danebenliegen.
Und das ist nicht zuletzt von Medien, die solche Umfrageergebnisse veröffentlichen, verantwortungslos. Bestimmen die Werte doch entscheidende Dynamiken: Sind sie für eine Partei „zu“schlecht, resignieren die Funktionäre eher, sind sie „zu“gut, wähnen sie sich möglicherweise in falscher Sicherheit – und beides kann erst recht zu bösen Überraschungen für sie führen.