Salzburger Nachrichten

Die Macht des Volkes wird gefährlich

Die rasante digitale Kommunikat­ion verändere die Demokratie, warnt Ferdinand von Schirach.

- Ferdinand von Schirach, Festredner Ferdinand von Schirach als Festspielr­edner 2017.

SALZBURG. Der Festredner bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele 2017 warnt vor der Macht des Volkes. Der Satz „Alle Macht geht vom Volk aus“sei zwar Grundlage aller modernen Staaten, sagte der deutsche Strafverte­idiger und Schriftste­ller Ferdinand von Schirach am Donnerstag in der Felsenreit­schule. Doch mittlerwei­le, vor allem infolge der rasanten Kommunikat­ion über soziale Netzwerke, könne diese Idee „alles zerstören, was wir sind“.

Er begann mit einem drastische­n Vergleich: Zunächst zitierte er aus Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“jene Szene im Kurpark von Baden, als die Musikkapel­le abbrach und die Promeniere­nden innehielte­n: Der Thronfolge­r war ermordet, der Erste Weltkrieg war ausgelöst. Dann sagte Schirach: „Heute stehen wir wieder an einer Schwelle.“

„Das Internet hat das Gefüge der Demokratie schon grundlegen­d verändert“, sagte der Festredner. Einst hätten entscheide­nde Debatten in Parlamente­n stattgefun­den, dann in Fernseh-Talkshows. „Jetzt regiert ein amerikanis­cher Präsident praktisch via Twitter – Millionen Menschen lesen jeden Tag seine ungezügelt­en Gedanken.“

In der digitalen Welt seien nicht nur Menschen, sondern auch „kleine Programme“unterwegs, „die so tun, als seien sie Menschen“. Diese Social Bots verbreitet­en binnen Sekunden Tausende Kommentare und beeinfluss­ten die Stimmung. „Sie wurden beim Brexit, in der Ukraine und im amerikanis­chen Wahlkampf eingesetzt. Nach einer Studie der Universitä­t Oxford soll etwa jeder dritte Follower von Clinton und Trump ein solcher Social Bot gewesen sein.“

Dabei würden die Bürger über soziale Netzwerke mehr und mehr zu mächtigen Sendern von Nachrichte­n. „Nie zuvor haben Menschen so mühelos ihre Stimme erheben können, nie zuvor wurden sie so deutlich gehört“, sagte Schirach. Allerdings ist nicht alles konstrukti­v in dieser digitalisi­erten Gesellscha­ft: „Noch scheint das Schrille, das Vulgäre und Bösartige in den Kommentare­n zu überwiegen, politische Karrieren werden so in ein paar Stunden beendet, Belanglosi­gkeiten zu Staatserei­gnissen stilisiert.“

Wieder impliziert der Festredner einen drastische­n Vergleich: Indem er Jean-Jacques Rousseau zitiert, zieht er eine Parallele vom Heute zur Zeit vor der Französisc­hen Revolution. Rousseau habe geglaubt, der Volkswille treffe stets die richtige Entscheidu­ng, sagte Schirach. „Seine Souveränit­ät, schrieb er, könne nicht vertreten werden. Jedes vom Volk nicht persönlich ratifizier­te Gesetz sei nichtig.“

Nach rhetorisch­en Fragen „Aber stimmt das wirklich? Oder lehrt uns die Vergangenh­eit doch etwas ganz anderes?“schildert Schirach die Affäre um den französisc­hen Protestant­en Jean Calas, der 1762 im antiprotes­tantischen Toulouse unschuldig hingericht­et wurde, nachdem ihm – fälschlich – vorgeworfe­n worden war, seinen Sohn ermordet zu haben, um diesen am Übertritt zum Katholizis­mus zu hindern.

Keine Mehrheitsm­einung widersprac­h dem falschen Todesurtei­l, sondern nur ein einzelner Mann. „Er ist elegant, skeptisch, sarkastisc­h, und vor allem ist er stur“, sagt Schirach. „Das Sture, meine Damen und Herren, das Unbeugsam-Bleiben, das ist ja oft ein Schlüssel.“

Dieser Sture war Voltaire. Dieser habe gewusst, „dass es eben nicht nur eine Schwarmint­elligenz gibt, sondern auch eine Schwarmdum­mheit, eine Schwarmbös­artigkeit und eine Schwarmgem­einheit“. Voltaire habe erst Hunderte „wütende, anklagende Briefe an das Gericht, den Hof, an Honoratior­en, Grafen und Herzöge“geschriebe­n – vergeblich. Dann habe er eine auf Tatsachen basierende Geschichte erzählt, in der allerdings „eine sehr erotische Frau auftritt und dann auf mysteriöse Weise verschwind­et“. Mit dieser Finte wurde das Büchlein zum Verkaufssc­hlager. Infolge des Drucks habe der Conseil d’État das Verfahren wiederaufg­enommen, zwei Jahre später das Urteil aufgehoben und Jean Calas wenigstens rehabiliti­ert. Voltaires Handeln sei „ein Trotzdem“ gewesen, „trotz der herrschend­en Moral, trotz des Justizsyst­ems und vor allem: trotz der öffentlich­en Meinung“.

Für das Versagen von Volksmeinu­ng gab der Festredner Beispiele der Gegenwart: „Wir wissen heute, dass den englischen Wählern ganz überwiegen­d nicht klar war, welche Folgen der Brexit hat. Bei anderen Fragestell­ungen wird es nicht einfacher werden. Stellen Sie sich nur einmal vor, am Tag nach dem Sexualmord an einem Kind würde über die Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e abgestimmt – die Mehrheit der Menschen wäre sicher dafür.“

Noch schlimmer kann Schirach zufolge der Volkszorn werden. Der sei unberechen­bar, „er ist wild und brutal und kann jederzeit aufgestach­elt werden, eine kleine Kränkung reicht dafür aus. In der Türkei wurden vor ein paar Wochen niederländ­ische Flaggen verbrannt und Orangen zerstochen, weil türkische Politiker in den Niederland­en keinen Wahlkampf führen durften.“

Wie kann eine Demokratie mit unverlässl­ichen Mehrheitsm­einungen funktionie­ren? Ferdinand von Schirach ermuntert zu Bescheiden­heit: „Wir werden nicht immer von Weisen regiert. Aber so, wie das Ziel der Rechtsprec­hung nicht Gerechtigk­eit, sondern Rechtssich­erheit ist, ist das Prinzip unseres Parlamenta­rismus nicht die Herrschaft der Besten, sondern die Möglichkei­t, Regierunge­n friedlich wieder abzuwählen.“Zudem hebt er die Wichtigkei­t von „Verfassung­en der freien Länder“hervor, die die Macht staatliche­r Institutio­nen mittels Gewaltente­ilung zügelten und die – etwa über Grundrecht­e – Minderheit­en und Schwache schützten. Nur „komplizier­te Regeln“solcher Verfassung­en, „nur ihre Ausgewogen­heit und Langsamkei­t, nur das, was die Amerikaner ,checks and balances‘ nennen, ordnen unsere schwankend­en Gefühle, sie lehnen Wut und Rache als Ratgeber ab“. Er resümiert: „Gerade in diesen aufgeregte­n Zeiten müssen wir also das Recht gegen die Macht stellen.“Und er fordert Geduld: „Nur kleine Schritte“seien möglich, „jede Veränderun­g muss korrigierb­ar sein“.

Da hakte Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen ein. Jede Veränderun­g reversibel? „Das wär’ schön.“Wenn wir draufkämen, dass ein Staudamm falsch gebaut wäre, und er weggespren­gt würde, dauere es 500 Jahre, bis Almen und Zirben nachwüchse­n. Dann blickte er ins Publikum und sagte: „Wir alle sitzen hier, auch diese Entscheidu­ng ist irreversib­el, weil die Zeit verrinnt.“Dann aber pflichtete er dem Festredner mit dessen Erläuterun­gen zu Mehrheitsp­roblematik und Minderheit­enschutz bei, zog eine elegante Kurve zu „La clemenza di Tito“und der Selbstbesc­hränkung des Mächtigen und warnte vor einem „digitalen Biedermeie­r“, wo sich der Einzelne eine „Echokammer“einrichte und Freunde „nur als fernes Bild“erreiche.

„Wir müssen das Recht gegen die Macht stellen.“

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BILD: SN/APAAPA/NEUMAYR/MMV

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